Wie schafft man es als Serienschöpfer und Showrunner, selbst die Toleranz der allen Verlautbarungen nach so offenen und künstlerfreundlichen HBO-Verantwortlichen überzustrapazieren? David Milch hat es 2007 vorgemacht.
Man nehme: ein serienuntypisches Sujet wie eine vom Surfen geprägte kalifornische Gemeinde am Pazifik, eine völlig verkrachte Familie, die einst durchs Surfen groß geworden, dann aber abgestürzt ist, eine immer größer werdende Anzahl dysfunktionaler Nebenfiguren, die sich vornehmlich rund um ein heruntergekommenes Motel versammelt, sowie – am wichtigsten – einen ebenso geheimnisvollen wie sich seltsam verhaltenden Neuankömmling, der eine Art Prophet darstellt, vielleicht aber auch Jesus Christus höchstselbst ist. Fertig ist die Serie, die vor gut zehn Jahren nicht nur die HBO-Zuschauer schnell ihre Geduld verlieren ließ.
David Milch hatte sich zuvor mit drei Staffeln seines Westerndramas „Deadwood“ auf dem gleichen Sender eine treue Fangemeinde erarbeitet – und bei HBO anscheinend einen so guten Ruf, dass man dort sein neues Serienprojekt bewilligte, dass sich schon auf dem Papier nicht gerade nach einem potentiellen Hit anhörte. Das Ergebnis toppte dann allerdings alles, was man sich unter einer schrägen Qualitätsserie vorstellen konnte (und immer noch kann). Zunächst einmal ist es auch nach Ansehen der kompletten Serie, die wegen des ausbleibenden Erfolgs nur aus zehn Folgen besteht, unmöglich zu sagen, worum genau es eigentlich geht. Sicher: Auf den ersten Blick ist es eine weitere jener HBO-Serien um eine dysfunktionale Familie und steht damit in der Tradition der „Sopranos“, von „Six Feet Under“ und „Big Love“, die bis zum jüngst ausgestrahlten „Here & Now“ reicht. Die Yosts, die in der Küstenstadt Imperial Beach leben – die auch schon bessere Zeiten gesehen hat -, erfüllen alle Voraussetzungen, um in diese Kategorie zu passen: Vater Mitch war mal ein Surfstar, bis er sich eine schwere Knieverletzung zuzog, heute streitet er sich mehr mit seiner Ehefrau Cissy, als dass sie sich unterhalten würden. Sohn Butchie lebt in besagtem schäbigen Motel, ist ein Heroin-Junkie und eine unzureichende Vaterfigur für seinen 14-jährigen Sohn Shaun, der bei den Großeltern aufgewachsen ist. Immerhin hat der das Talent fürs Surfen von seinen Vorfahren geerbt.
Visionen, Auferstehungen und ein seltsamer Prophet
Diese Familie und ihre Probleme sind aber im Grunde nur der Aufhänger, der Katalysator für eine ganz andere Erzählebene. Mit dem Auftauchen eines Fremden, der sich selbst nur John nennt und auf Nachfrage bejaht, er käme aus Cincinnati, bekommt das Leben der Yosts und ihrer Bekannten nämlich eine esoterische Wende. Plötzlich schwebt Mitch immer wieder mal unbeabsichtigt Zentimeter über dem Boden, haben alle möglichen Leute seltsame Visionen und werden sogar die Grenzen zwischen Leben und Tod durchlässig. Schon am Ende der zweiten Folge steht der erste Mensch von den Toten wieder auf, nachdem vorher bereits ein Vogel ins Leben zurückgekehrt ist. John selbst scheint körperlich unverwundbar zu sein und außerdem über keinen Stoffwechsel zu verfügen. Auch nicht über eigenes Vokabular, plappert er doch immer nur nach, was Andere zuvor gesagt haben oder bildet aus deren Worten neue Sätze, die oft wie Prophezeiungen klingen. Aber wie das seit jeher so ist: Propheten sind schwer zu verstehen.
Dass dieser John nicht von dieser Welt stammt, ist schnell offensichtlich. Ob er aber wirklich Jesus ist, wie die Initialen des Serientitels nahelegen (JFC könnte auch Jesus Fucking Christ heißen, was eine nette Anspielung an das exzessive Fluchen in „Deadwood“ wäre), oder doch „nur“ ein Engel, Prophet oder Johannes, der Täufer, lieferte Stoff für zahlreiche Fandiskussionen, die dank des Internets noch heute nachgelesen werden können. Es gibt auch Hinweise dafür, dass Shaun der wiedergekehrte Messias sein könnte, vielleicht aber auch jemand ganz anderer – oder was bedeutet das Schlussbild, zu dem John Butchies Freundin Kai als „Mutter Gottes“ betitelt? Was man der Serie schon mal nicht vorwerfen kann, wäre, dass sie nicht zum Nachdenken anregte.
Ausufernde Menge an Nebenfiguren
Ihre eigentliche Skurrilität und auch oftmals quälende Unzulänglichkeit rührt aber daher, dass Milch um diese zentrale Handlungsebene eine schier ausufernde Menge Nebenfiguren versammelt, von denen die meisten keine rechte dramaturgische Funktion zu erfüllen scheinen. Immer wieder wechselt die Szenerie zum Snug Harbor Motel, dessen Parkplatz fast von Folge zu Folge von immer mehr seltsamen Gestalten bevölkert wird: einem homosexueller Lottogewinner mit Missbrauchs- und Diskriminierungserfahrungen, einem Anwalt von der „Association of Surfing Attorneys“, zwei Mitgliedern der hawaiianischen Mafia, die eher wie Laurel und Hardy agieren, einem Arzt, der seinen Job im Krankenhaus geschmissen hat, nachdem sich in seiner Schicht ein Wunder ereignet hat. Und mittendrin Luiz Guzman als Hausmeister, der versucht, den ganzen Wahnsinn um ihn herum zu verstehen. Dazu kommen dann noch weitere Nebenfiguren, aus denen vor allem Ed O’Neills pensionierter Polizist Bill hervorsticht, der ständig mit seinen Vögeln spricht und manchmal mit seiner verstorbenen Frau.
Unaufgeklärte Anspielungen gibt es zuhauf, auf 9/11 und die „Turbanträger, die nicht alle ausgelöscht werden können“, auf das Internet, das „groß ist“ und die „Nullen und Einsen in der Kamera“, durch die Johns Vater (also Gott?) spräche. Nicht nur diese Dialoge (eher Monologe) erinnern an einige von Thomas Pynchons Romane, auch das ganze Setting der Serie. So wie der große kryptische Schriftsteller in „Vineland“ bereist eine Ahnung des World Wide Webs durchscheinen lässt, die irgendwie in der Luft liegt, obwohl der Roman Mitte der 1980er Jahre spielt, so beziehen sich auch hier die Figuren auf Dinge, die größer sind als diese kleine Welt, um die sich die Serie vordergründig dreht. Fraglich ist allerdings, ob wir jemals eindeutige Antworten auf all die aufgeworfenen Fragen bekommen hätten, wenn die HBO-Bosse doch eine weitere Staffel bewilligt hätten. Oder ob David Milch einfach immer weitere skurrile Nebenfiguren eingeführt hätte. Das Snug Harbor Motel hatte schließlich noch viele freie Zimmer.