Mit seinem immer breiter werdenden Angebot an Eigenproduktionen entfernt sich Netflix zunehmend von seinen Ursprüngen als Online-Videothek und wird immer mehr zum vollwertigen TV-Network – allerdings mit Sendungen, die bei einem herkömmlichen nie laufen könnten.
In den USA begann Netflix bekanntlich als Internet-DVD-Verleih: Die Webseite diente anfangs lediglich als Portal, um sich Filme zu bestellen, die dann der Briefträger nach Hause brachte. Inzwischen hat man nicht nur weitgehend auf Streaming umgestellt, sondern ist (zunächst in den USA) auch zu einem der wichtigsten Auftraggeber für TV-Produktionsstudios außerhalb des klassischen Networkfernsehens geworden. Alleine seit vorletztem Freitag gingen zwei neue Serienstaffeln und eine Talkshow mit drei Folgen pro Woche online – dazu kam dann noch ein abgeschlossener Film. Die inhaltliche Bandbreite wird dabei immer größer, denn anders als die typische HBO- oder Showtime-Serie gibt es die typische Netflix-Serie immer noch nicht. Auf eine Mainstream-Superheldenshow wie „Daredevil“ folgt ein Projekt mit Indie-Anmutung wie „Love“, eine europäische Großproduktion wie „Marseille“ wird gleichzeitig mit der zweiten Staffel einer auf den ersten Blick unscheinbaren Dramedy über Menschen in ihren 70ern veröffentlicht.
Insbesondere „Marseille“ war branchenintern lange erwartet worden, handelt es sich doch um das erste in Europa entstandene und speziell auf ein europäisches, insbesondere französisches Publikum zielende Serienprojekt des VoD-Anbieters. Dabei ist das Politdrama mit Gérard Depardieu, das wie eine Mischung aus der Starz-Serie „Boss“ und einer Cable-Qualitätsserie beginnt und zunehmend Richtung Telenovela abdriftet, noch das konventionellste der jüngst online gegangenen Formate. Ambivalente Spitzenpolitiker mit großen Egos, junge attraktive Frauen und tragisch endende Liebesdreiecke gehen ja eigentlich immer. Dazu eine gehörige Prise Koks und Verbrechen – das hat ja für Netflix schon neulich bei „Narcos“ gut funktioniert. Ganz ernst nehmen kann man das Ergebnis trotz interessanter Ansätze rund um die sozialen Unterschiede in der französischen Hafenstadt und die Verflechtungen zwischen Lokalpolitik und Mafia aber leider nicht, dazu ist die Handlung einfach zu soapig. Gut unterhalten lassen kann man sich davon trotzdem, auch wenn man sich nach mehreren Folgen am Stück ein bisschen so fühlt, als hätte man zu viele Eclairs gegessen.
„Grace and Frankie“: Tabuthemen locker vermittelt
Insgesamt wesentlich gelungener ist auch in der zweiten Staffel „Grace and Frankie“. Diese Mischung aus genau beobachteter Comedy und herzerwärmendem Drama ist in der heutigen Zeit im Grunde ein kleines Wunder, zielt sie doch an allen werberelevanten Zuschauergruppen vorbei. Wo es in den 1980er Jahren im US-Networkfernsehen etwa noch die „Golden Girls“ gab, wäre eine Serie über das (Liebes-)Leben von Über-70-Jährigen dort heute unvorstellbar. Selbst bei einem Pay-TV-Anbieter kann man sie sich nur schwer vorstellen, pflegen HBO, Showtime und Starz doch gerne ihre Images, jung und hip zu sein. Und etwa auf den sonntäglichen HBO-Comedy-Sendeplatz nach „Game of Thrones“ würde die Serie auch tatsächlich nicht passen. Netflix muss aber auf Programmpläne ebenso wenig Rücksicht nehmen wie auf Werbekunden (und Senioren sind wahrscheinlich eh zahlungskräftigere Abonnenten als junge Leute, die sich zu mehreren einen Account teilen), weswegen der Anbieter problemlos Jane Fonda und Lily Tomlin die Gelegenheit geben konnte, die Rollen ihrer Karrieren zu spielen.
Anders als die überwiegende Mehrheit der Network-Sitcoms ist „Grace and Frankie“ dabei eine Serie, die neben allem Humor auch Botschaften vermitteln möchte. Das beginnt auch in Staffel 2 wieder mit einem Plädoyer für Toleranz gegenüber homosexuellen Partnerschaften, als Robert (Martin Sheen) und Sol (Sam Waterston) sich das Ja-Wort geben. Mit zunehmender Folgenzahl rücken aber die beiden titelgebenden Frauenfiguren immer mehr in den Mittelpunkt, die in der Debütstaffel noch etwas von ihren männlichen Ex-Partnern an die Wand gespielt wurden. Sowohl Grace als auch Frankie knüpfen romantische Bande zu Männern ihres Alters, und so wird die Staffel zu einer interessanten Auseinandersetzung mit dem Thema Partnerschaft und Sex im Alter. Die dabei vermittelte Message lautet: Alter macht auch nicht weiser. Das ungleiche Duo gibt wunderbare Rollenvorbilder fürs Altern mit Würde und Humor ab und macht uns Jüngeren klar, dass die Probleme und Gefühlslagen unserer Elterngeneration weitgehend auch keine anderen sind als unsere eigenen.
Die Serie spricht aber auch noch andere Tabuthemen an: Sterbehilfe und das Recht, sein Ende selbstbestimmt zu wählen – und vor allem Feminismus. Ein Haupthandlungsstrang der Staffel dreht sich um Frankies Kampf, ein von Palmöl und Giften freies Gleitgel produzieren zu lassen. Dabei geht es natürlich um Umweltschutz (Rettet unsere Cousins, die Orang-Utans!), aber eben auch um weibliche Selbstbestimmung und die Kontrolle über den eigenen Körper – auch das in einer Networksserie bis auf Weiteres unvorstellbar. Dass „Grace and Frankie“ bei all diesem Anspruch so unterhaltsam ist, liegt sicher an den hervorragenden Schauspielern, aber auch daran, dass die Dialoge pointiert geschrieben sind und trotz der hohen Wortanzahl nie in Geschwafel abgleiten.
„Chelsea“: Talk mit politischem Anspruch
Ein interessanter Crossover-Effekt zwischen den Netflix-Eigenproduktionen ergab sich in der zweiten Ausgabe der neuen Talkshow von Chelsea Handler, die von dem Kabelsender E! zum VoD-Dienst gewechselt ist – wohl, weil sie dort, wie sie in der Debütsendung betonte, endlich machen kann, was sie will. Gwyneth Paltrow stellte das neue, von ihrem Kosmetikunternehmen vertriebene Gleitgel vor, das nach dem Vorbild von Frankies keine Giftstoffe enthalten soll. Die Idee dazu sei ihr gekommen, während sie die erste Staffel von „Grace and Frankie“ guckte, erzählte die Schauspielerin. Auch im Gespräch mit Handler ging es also darum, dass Frauen selbst entscheiden können sollen, welche Inhaltsstoffe sie ihren Körpern zuführen. Dass die Komikerin und Talkerin auch ansonsten mit ihrer neuen Show eine gesellschaftspolitische Agenda verfolgt, wurde schon in der ersten Episode klar, als sie den US-Bildungsminister begrüßte und ankündigte, sie wolle mit Hilfe von „Chelsea“ die Bildung nachholen, die ihr mangels Collegebesuch leider entgangen sei. Während das Thema Bildung wohl der rote Faden wird und auch in Folge 2 wieder aufgegriffen wurde, schnitt „Veep“-Star Tony Hale dort ein weiteres politisches Thema an: den Kampf gegen Zwangsarbeit und Menschenhandel. Durchwegs Themen also, die in einer traditionellen Late-Night-Show bei einem TV-Network – zumindest in dieser Offenheit – kaum vorstellbar wären.
Nach wie vor verfolgt Netflix mit seinen Eigenproduktionen die Strategie, zwar für jede Zielgruppe etwas dabeizuhaben, aber nicht mit jedem Format alle ansprechen zu wollen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die „Großen Vier“ ABC, CBS, NBC und Fox schon seit Langem geeinigt haben (und denen trotzdem oder gerade deswegen zunehmend die Zuschauer abhanden kommen), wird man hier nicht finden. Vielmehr hat das Unternehmen offenbar keine Angst, mit einzelnen Produktionen einen Teil seiner Kunden auch vor den Kopf zu stoßen. Was nicht weiter schlimm ist, solange das Gesamtportfolio stimmt.
So entwickelt sich Netflix zwar immer weiter weg von dem ursprünglichen Gedanken einer Online-Videothek, die einfach einen repräsentativen Querschnitt der Film- und Seriengeschichte zusammenstellt, hin zu einem Anbieter von Original-Content von Serien über Filme bis zu Talkformaten, der in direkte Konkurrenz zu den linearen Fernsehsendern tritt. Solange dabei regelmäßig Produktionen wie „Grace and Frankie“ oder „Chelsea“ herausspringen, kann man sich darüber nicht wirklich ärgern.
Staffel 1 von „Marseille“ und beide Staffeln von „Grace and Frankie“ sind komplett auf Netflix verfügbar, von „Chelsea“ gibt es jeden Mittwoch, Donnerstag und Freitag eine neue Folge.