Nach dem Podcast, in dem wir die aktuellen US-Wahlen mit „The West Wing“ in Verbindung gebracht haben, folgt jetzt aus aktuellem Anlass schon die Fortsetzung. Der Tod eines Höchstrichters wurde auch in der Serie mehr als einmal thematisiert und gibt uns Gelegenheit, wieder etwas zu lernen (und einen Blick in Aaron Sorkins Drehbücher zu werfen).
Es gibt sie noch, diese wenigen Personen, deren Ableben eine ziemliche Auswirkung auf das Weltgeschehen haben. Einer davon ist letzte Woche verstorben: der US-Richter Antonin Scalia.
Wobei, einfach nur „Richter“ ist untertrieben. Er war einer von neun Supreme Justices (einer davon ist der „Chief Justice“), dem US-Höchstgericht (Supreme Court) und letzter Instanz in Verfassungsfragen. Warum sind dieses Gericht und wer da entscheidet nicht nur für 300 Millionen US-Bürger, sondern auch für die ganze Welt wichtig oder zumindest wegweisend? Nur zwei Beispiele: Did the Supreme Court Doom the Paris Climate Change Deal? und Supreme Court Ruling Makes Same-Sex Marriage a Right Nationwide
Wer sich dafür näher interessiert, findet in den englischsprachigen, aber auch in den hiesigen Medien genug Infos. Generell kann man aber sagen:
- US Supreme Justices werden auf Lebenszeit ernannt, können aber freiwillig zurücktreten (oder kompliziert abgesetzt werden, was noch nie vorkam). Wenn ein Sitz „frei“ wird, darf der amtierende Präsident einen Kandidaten, eine Kandidatin vorschlagen, der/die dann vom Senat bestätigt werden muss.
- Alle Justices lassen sich sehr, sehr grob in liberal und konservativ respektive demokratisch und republikanisch einordnen und die Entscheidungen fallen häufiger entlang dieser ideologischen Trennlinien aus. Der aktuelle Stand war 5:4 für die Konservativen, wobei Scalia eindeutig auch diesen zuzuordnen war.
- Obama hat jetzt die Chance, einen liberalen (oder zumindest liberaleren) Ersatz zu finden und somit auch das Verhältnis umzudrehen. Allerdings hat er im Senat eine republikanische Mehrheit gegen sich.
- Der aktuelle Wahlkampf bringt noch eine andere Frage ins Spiel: Sollte nicht so kurz vor einer Wahl erst der nächste Präsident das Recht der Nominierung erhalten und sollte nicht die Öffentlichkeit bei ihrer Wahlentscheidung auch das mitbestimmen dürfen? Das wird sicher eine Rolle spielen. Beide Parteien hoffen natürlich darauf, dass sie dann das jeweilige Lager stärken können. Allerdings werden auch viele Senatoren gleichzeitig gewählt und es könnte sich auch hier eine Verschiebung der Mehrheiten ergeben.
- Wenn Obama jetzt allerdings jemanden nominiert, dann ist es fast ausgeschlossen, dass der- oder diejenige die bestmögliche Persönlichkeit ist, sondern es kann nur ein Kompromisskandidat sein.
Dieser letzte Punkt wird in „The West Wing“ auch intensiv behandelt. Es sind nicht unbedingt die besten Juristen, die brillantesten Hirne, sondern immer nur die bestätigbaren, die weder links noch rechts anecken.
Ab jetzt Spoiler von „The West Wing“ bis inklusive Staffel 5 möglich .
„The West Wing“ macht und lehrt Geschichte
Über die demografische Zusammensetzung der Supreme Justices gibt es viele Infos von Wikipedia aufwärts. Aaron Sorkin und seine Autoren haben Jed Bartelt zwei neue Justices besetzen lassen. Beim ersten (Mendoza) geht es noch mehr um fachliche Eignung und um das politische Kapital, das dabei verbraucht wird und gar nicht um die historischen Implikationen des ersten Hispanic im Supreme Court. Im zweiten Fall wird mehr auf das Fakt der ersten Frau als Chief Justice wert gelegt, denn sich in wenig telegenen Rechtsdebatten zu verlieren. Aber damals (und heute immer noch) aktuelle juristische Themen werden trotzdem adressiert und liefern genau den edukativen Mehrwert, für den man „The West Wing“ einfach wertschätzen muss.
Roberto Mendoza
In der ersten Staffel (1999) wird zu Beginn der Folge „The Short List“ (1.09) gefeiert, weil man für den zurücktretenden Justice Crouch (Mason Adams) den scheinbar perfekten (bestätigbaren) Kandidaten gefunden hat: Judge Harrison (Ken Howard). In einem Gespräch fragt Crouch Präsident Bartlet, ob er seinen Wunschnachfolger Mendoza (Edward James Olmos) überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen habe:
CROUCH Mendoza was on the short list so you can show you had an Hispanic on the short list. BARTLET That's not true, Joseph. CROUCH You ran great guns in the campaign. It was an insurgency, boy, a sight to see. Andthen you drove to the middle of the road the moment after you took the oath. Just the middle of the road. Nothing but a long line painted yellow. BARTLET Excuse me, sir... CROUCH I wanted to retire five years ago. But I waited for a Democrat. I wanted a Democrat. Hmm! And instead I got you.
Davon beeindruckt lässt Bartlet Mendoza noch einmal überprüfen, weil man ihn eigentlich nicht wirklich in Erwägung gezogen hatte. Außerdem entdeckt Sam einen alten Text von Harrison, wo dieser gegen das Recht auf Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte („privacy“) argumentiert. Daraufhin wird beschlossen, Mendoza eine Chance zu geben:
TOBY With a guaranteed confirmation we're sending out the door based on a 30-year-old paper, which by the way, no one will know about but us. BARTLET You don't think the guy who called Sam wouldn't know how to call a senator's office? TOBY Mr. President, if this is really about abortion, we already talked about... SAM It's not about abortion. It's about the next 20 years. Twenties and thirties, it was the role of government. Fifties and sixties, it was civil rights. The next twodecades, it's gonna be privacy. I'm talking about the Internet. I'm talking about cellphones. I'm talking about health records, and who's gay and who's not. And moreover, in a country born on a will to be free, what could be more fundamental than this? BARTLET Toby? TOBY [beat] Let's meet Mendoza.
Obwohl es in der Realität noch bis 2009 dauern sollte, bis die erste hispanische Richterin (und erst dritte Frau) Supreme Justice wurde, wird das in „The West Wing“ nicht thematisiert. In der Folge „Celestial Navigation“ (1.15) wird Mendoza zwar nur auf Grund seines Aussehens verhaftet, abseits davon spielen aber hauptsächlich sein unorthodoxer Werdegang und seine persönlichen Eigenheiten eine Rolle. Eine schöne Utopie, die Sorkin hier gezeichnet hat, es wäre zu schön, wenn das in der Realität auch immer so wäre.
In der Folge 1.19 „Six Meetings Before Lunch” wird Mendoza schließlich von Senat bestätigt. Unsere Helden haben dabei aber so viel politisches Kapital verbraucht, dass sie immer wieder darauf Bezug nehmen und die eine oder andere Policy nicht umsetzen können.
Evelyn Baker Lang und Christopher Mulready
Die zweite Besetzung wird dann schlussendlich auch eine dritte. In der Folge „Separation of Powers“ der fünften Staffel (2003) hat der alte, ultraliberale Chief Justice Ashfield (Milo O’Shea) einen Zusammenbruch, kann aber auf seinen Posten zurückkehren. Am Ende der Folge empfängt ihn Bartlet und will ihn überreden zurückzutreten. Ashfield lehnt aber ab. Es wiederholt sich fast die gleiche Szene aus der ersten Staffel mit Crouch, nur dass Ashfield den Rücktritt verweigert, weil Bartlet keinen wirklichen Liberalen als adäquaten Ersatz durchbringen würde.
Ashfield im Gespräch mit Präsident Bartlet (c) NBC
Später in „The Supremes“ (5.17) ist der ultrakonservative Justice Brady verstorben. Die West Wing-Crew ist damit beschäftigt, möglichst ungeeignete Kandidaten gut sichtbar zu interviewen, um Druck auf die Senatoren zu erzeugen, ihren späteren Vorschlag durchzuwinken. Eine davon ist Evelyn Baker Lang (Glenn Close):
JOSH Baker Lang? LEO Short circuit JOSH Isn't she kinda a lefty? LEO Yeah C.J. Decoy Josh. Do it in your office someplace where the press can see her. LEO We want the left flank sufficiently mollified and the right flank sufficiently panicked so as to inspire a little conciliation on all flanks.
Toby und Josh sind von ihr fasziniert, aber der Favorit ist Brad Shelton (Robert Picardo), der in seiner Mittelmäßigkeit überzeugt. Die Katzen von Donnas Eltern bringen Josh aber auf eine Idee. Anstatt eines Kompromisskandidaten will er die beiden Ultras Ahsfield und Brady mit zwei Ultras – Lang und einem von den Republikanern selbst gewählten Vorschlag – ersetzen und gleichzeitig Geschichte schreiben, indem mit Evelyn Lang die erste Frau zum Chief Justice ernannt wird.
Der Vorschlag stößt zuerst intern auf wenig Gegenliebe, vor allem weil damit zu rechnen ist, dass die Republikaner den schlimmstmöglichen Konservativen vorschlagen. Genau das passiert auch, doch Christopher Mulready (William Fichtner) stellt sich nicht nur als brillanter Jurist heraus, sondern kann auch mit Lang wunderbar intellektuell streiten. Beide werden ernannt.
BARTLET You want another Brady? MULREADY Sure, just like you'd like another Ashland - who wouldn't? The court was at its best when Brady was fighting Ashland. BARTLET Plenty of good law written by the voices of moderation. MULREADY Who writes the extraordinary dissent? The one man minority opinion whose time hasn't come but 20 years later some circuit court clerk digs it up at 3:00 in the morning. Brennan railing against censorship. Harlan's Jeremiad on Jim Crowe. BARTLET Maybe you some day? MULREADY They can't put me on the court, just like you can't put Evelyn Lang on the court. It's Sheltons from here on in.
Kompromiss der Extreme
Am Ende hat man sich also, anstatt für den Kompromiss in Person, für zwei ideologische Extreme entschieden, die durch Argumente und juristische Fachkenntnis selbst zum Kompromiss kommen sollen. Eine sehr romantische Vorstellung von Recht und wie es zustande kommt.
Dabei war das Hauptargument in der Serie gegen Lang gar nicht ihre Ideologie – es hätte wie bei Mendoza vermutlich nur viel Aufwand bedurft – sondern, dass sie während ihrer Studienzeit eine Abtreibung hatte. Das bringt den berüchtigten (und realen) Fall Roe v. Wade in die Handlung, der Ende der 1960er Abtreibungen de facto legalisierte und heute noch oft eine Rolle im politischen Diskurs der Vereinigten Staaten spielt. Eine viel zu große, wie auch Josh in der gleichen Folge noch einmal anmerkt:
C.J. She's going to be on posters under a headline that says 'Wanted for the murder of 15 million American children'. JOSH Let's think about this. C.J. Let it go. JOSH No. Really, nominees live or die by Roe v. Wade. We're playing along with the ridiculous notion that the Supreme Court is a single issue body in a way it hasn't been since...I don't know what... TOBY Slavery. JOSH Exactly. So she had an abortion. Who the hell are we?
Nachdem Justices bei Ernennung durchschnittlich Mitte 50 sind, können sie eine lange Zeit ihren Job ausüben, wenn es ihre Gesundheit zulässt. Das führt einerseits dazu, dass Nachbesetzungen relativ selten vorkommen und relevante Meilensteine von Präsidentschaften darstellen und andererseits, dass es – wie auch in der Serie von Crouch als auch Ashfield thematisiert – für sie aus ideologischen Gründen logisch erscheint, mit dem Rücktritt zu warten, bis die Zeit „reif“ ist (und die richtige Person im Amt).
Möglich, dass Scalia bereits gesundheitlich angeschlagen war, aber nicht vor der Wahl im November zurücktreten wollte. Sein für die Öffentlichkeit überraschend plötzlicher Tod bringt jetzt Obama in die Situation, den dritten Justice in seiner Amtszeit besetzen zu können. Er hat die Anzahl der Frauen von 1 auf 3 erhöht und wie erwähnt die erste hispanische Vertreterin entsandt. Noch eine Ernennung und sein politisches Vermächtnis könnte die USA und die Welt noch auf Jahrzehnte prägen.
Wenn Obama noch jemanden durchbringen will, wird das eventuell einiges kosten. Ob er das politische Kapital noch hat, ist fraglich und die Republikaner werden ihm den Erfolg nicht gönnen, vertreten doch viele ihrer Kandidaten im Wahlkampf eine strikte „Alles von Obama ist schlecht“ -Linie.
Alle Transkripts der Serie sind unter: http://www.westwingtranscripts.com/ (die erwähnten Textpassagen sind von uns ausgebessert worden, weil sie automatisch erzeugt wurden und einige Fehler enthielten.)
Noch mehr?
Why ‘The West Wing’s’ Supreme Court Battle Trumped Political Reality (Variety)
Die nächsten Wochen werden auch zeigen, wie sehr das Thema den Wahlkampf beeinflussen wird. Auf usa2016.at gibt es einen guten Text auf Deutsch zum Thema, was der Tod von Scalia realpolitisch bedeutet.
Am Samstag fand in South Carolina die nächste Debatte der verbliebenen republikanischen Kandidaten statt. Das Thema der Nachbesetzung war das erste auf der Tagesordnung, nur Stunden nach der Bekanntgabe von Scalias Tod.
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