Das österreichische Serienwunder: „Braunschlag“

Die Verantwortlichen von ARD und ZDF lamentieren weiterhin, es sei schwierig, ihrem Stammpublikum modernere Serien zuzumuten. Der ungleich kleinere ORF hat unterdessen schon im vergangenen Jahr vorgemacht, dass eine deutschsprachige Serie durchaus HBO-Niveau erreichen und gleichzeitig tief im Herkunftsland verwurzelt sein kann – wenn man sich denn nur etwas traut. David Schalkos „Braunschlag“ wirkt, als hätte Josef Hader „Twin Peaks“ gedreht und wurde in Österreich trotzdem (oder gerade deshalb?) zum überragenden Quotenerfolg.

Von Marcus Kirzynowski

Der Bürgermeister und sein Spezi: Robert Palfrader und Nicholas Ofczarek; Foto: ORF/Superfilm/Ingo Pertramer

Der ab September 2012 zur Primetime auf ORF 1 ausgestrahlte Achtteiler spielt in dem gleichnamigen fiktiven Ort im niederösterreichischen Waldviertel, der, wenn nicht geografisch, so doch zumindest mental meilenweit von Wien entfernt scheint. Seine Bewohner sind ein Haufen grantelnder und schräger Zeitgenossen, deren Weitblick meist nicht über die Ortsgrenze hinausreicht. Allen voran Bürgermeister Tschach, der die Gemeinde mit seiner Misswirtschaft (und ominösen Geschäften mit der Russenmafia) fast in den Ruin getrieben hat. Als Ausweg kommt er lediglich auf die grandiose Idee, ein Wunder zu inszenieren, um Touristen nach Braunschlag zu locken. Und so hat der reichlich naive UFO-Gläubige Reinhard Matussek nachts im Wald eine Marienerscheinung, bei der er sich jedoch nicht sicher ist, ob es sich nicht doch eher um Außerirdische handelt. Seine Verkündungen bringen aber nicht nur massenhaft Pilger in das verschlafene Kaff, sondern auch einen Vertreter des Vatikans.

Regisseur und Drehbuchautor David Schalko, schon für den Zweiteiler „Der Aufschneider“ mit Josef Hader als zynischem Pathologen verantwortlich, schöpft, was den berühmten schwarzen Humor seines Heimatlandes betrifft, aus dem Vollen: verrückte Figuren, lakonische Dialoge, bizarre Handlungen, die allerdings oft in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Schalkos Eltern kommen aus der Region, in der die Serie spielt, und dort gebe es auch einen UFO-Landeplatz, erzählte der Regisseur auf der Cologne Conference 2012. „Was aus deutscher Sicht wie eine Farce wirkt, ist für österreichische Zuschauer eher Realismus.“ Für sein erstes Serienprojekt stand ihm die Creme der österreichischen Schauspieler zur Verfügung, neben Robert Palfrader als windigem Bürgermeister und Burgschauspieler Nicholas Ofczarek als dessen bestem Spezi und Besitzer der Ortsdisco Richard Pfeisinger unter anderen Maria Hofstätter („Hundstage“) als Tschachs vereinsamte Ehefrau, Nina Proll („Nordrand“) als Pfeisingers Gattin und Simon Schwartz (aus den Brenner-Filmen mit Hader) als bizarrer Landespolitiker.

Im Hasenkostüm in den Kuschelclub

Während die Gags meist ebenso skurril wie respektlos gegenüber sämtlichen nationalen „Tabuthemen“ wie Politik, Kirche und der NS-Vergangenheit sind, offenbaren sich Schalkos Qualitäten schrittweise noch auf ganz anderen Ebenen. Ähnlich wie in großen, bahnbrechenden US-Serien wie „Twin Peaks“ oder „Mad Men“ wachsen einem die auf den ersten Blick eher abstoßenden als sympathischen Figuren nämlich mit der Zeit immer mehr ans Herz, wenn sie verletztlichere Seiten offenbaren. Sogar der so selbstsüchtige wie gierige Bürgermeister ist im Grunde nur ein zutiefst einsamer Mensch. So bleibt neben aller überdrehter Komik genügend Zeit für melancholisch durchsetzte Szenen, die einem Thomas Bernhard zur Ehre gereicht hätten. Eine der schönsten Sequenzen zeigt beispielsweise Maria Hofstätter als von ihrem Ehemann vernachlässigte Frau zunächst in ihrem faden Alltag zu Hause, wo sie auf die Mikrowelle starrt, in der sie sich eine Tasse Kaffee aufwärmt. Danach entdeckt sie in der Zeitung eine Anzeige für einen „Kuschelclub“. Ihr Besuch im Hasenkostüm in diesem Etablissement mit dem schönen Namen „Streichelzoo“ ist dann wohl eine der bizarrsten und gleichzeitig menschlichsten Sequenzen der Serie.

Die den vom Vatikan entsandten Priester wie ein Blitz treffende Liebe zur deutschen Magd Silke inszenierte Schalko hingegen, wie er selbst in Köln sagte, als „Mischung aus Zucker/Abrahams/Zucker und Leni-Riefenstahl-Ästhetik“. Braunschlag sei auch ein sehr politisches Projekt, so der Regisseur und Autor, weil darin typisch österreichische Missstände wie Korruption offen beim Namen genannt werden. Der ORF habe nach vier ausgestrahlten Folgen bereits zahlreiche Beschwerde-Mails von beleidigten Katholiken und FPÖ-Politikern bekommen. „Das ist aber bei uns das Minimum“, erklärte Schalko lakonisch.

Je weiter die Handlung voranschreitet, desto ungezügelter wagt Schalko all das, was im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen nach wie vor unvorstellbar wäre: von sprechenden Tauben, die anschließend zu Brathändeln verbrennen wie einst der biblische Dornenbusch zu Asche, bis zur Masturbation im Beichtstuhl. Dabei sind alle Tabubrüche nie Selbstzweck, sondern immer ebenso witzig wie Teil des erzählerischen Gesamtkonzepts. Und in Braunschlag haben zwar nicht alle Einwohner eine Leiche im Keller wie einst in Twin Peaks, aber einen unfassbaren Handlungsstrang, der auf Josef Fritzls Kellerkinder anspielt, gibt es gegen Ende auch noch.

Der Mut des ORF, eine so ungewöhnliche Eigenproduktion – ganz bewusst – ins Hauptabendprogramm zu hieven, wurde dabei durchaus belohnt: Mit Marktanteilen von bis zu 41 Prozent in der Zielgruppe der Bis-49-Jährigen war Braunschlag die erfolgreichste Serie auf dem Sendeplatz seit 20 Jahren. Dabei sieht sich Schalko – trotz allen gewollten Lokalkolorits und nördlich der Staatsgrenze mehr als skurril wirkenden Dialekts – durchaus in der Tradition moderner US-Spitzenserien: „Wir werden uns eh bald in allen Ländern an HBO orientieren.“ Mit „Braunschlag“ hat er jedenfalls dessen Niveau scheinbar mühelos erreicht: Es ist völlig ohne Schmäh eine der international besten neuen Serien der vergangenen Jahre.

„Braunschlag“ ist auf DVD verfügbar.

2 comments

  1. Die verantwortlichen Lamentierer bei ARD und ZDF haben jahrzehntelang das Niveau deutscher Fernsehserien nach unten entwickelt. Jetzt jammern sie, dass es schwierig ist den versauten Sehgewohnheiten der Stamm-Zuschauer mal was Neues zu präsentieren. Klar, eine Rück-Umerziehung zu Qualität wird ebenfalls wieder Jahre in Anspruch nehmen. Aber bis dahin sind die Verantwortlichen für die heutige Misere mit ihrer üppigen Rente längst über alle Berge.

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