Normal kann jeder: die neue Netflix-Dramedy „Atypical“

Atypical
Eine fast normale Familie (mit imaginären Pinguinen): die Gardners; Abb.: Sony TV

Nach mehreren eher uninteressanten neuen Dramaserien in Folge startete der Steamingdienst vergangene Woche mal wieder eine eigenproduzierte Comedy/Dramedy. Und beweist mit der wahnsinnig witzigen, charmanten und warmherzigen Serie um einen autistischen Teenager einmal mehr, dass er Halbstünder einfach besser kann.

Es ist eine Folge des sogenannten Zeitalters des Peak-TV, dass immer wieder Serien wie aus dem Nichts auftauchen, von denen man vorher nie etwas gehört oder gelesen hat. Das ist kein Wunder, wenn doch etwa Netflix fast jede Woche eine neue Staffel eines seiner Originals raushaut. Das Schöne daran ist, dass sich gerade diese kleineren, im Vorfeld unauffälligen Serien dann manchmel als die wahren Perlen im nicht mehr enden wollenden Serienstream herausstellen. So auch „Atypical“.

Der 18-jährige Sam Gardner (Keir Gilchrist) könnte ein ganz normaler US-Teenager sein, der mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Casey (Brigette Lundy-Paine) ein typisches Mittelschichtsleben in der Suburb führt – wäre er nicht atypisch auf dem neurologischen Spektrum, oder wie man umgangssprachlich gemeinhin sagen würde: autistisch. Zwar hatte er seit längerem keine echte Krise mehr, seit er auf die High School geht, trotzdem ist der Alltag für ihn eine ständig neu zu bewältigende Herausforderung. In den Augen seiner „neorotypischen“ Mitschüler wirkt er einfach nur etwas weird: Er scheint sich mehr für Pinguine zu interessieren als für Menschen, läuft ständig mit schalldichten Kopfhörern durch die Welt und sagt etwas zu offen heraus, was er in bestimmten Situationen von seinen Mitmenschen hält. Aber wer ist schon normal?

Mit seinen „Macken“ und besonderen psychischen Bedürfnissen bestimmt Sam in weiten Teilen auch das Leben der anderen Familienmitglieder. Die Eltern Elsa und Doug (Michael Rapaport) sind vielleicht etwas zu behütend und überbesorgt, aber insbesondere Casey fällt die Aufgabe zu, immer ein Auge auf ihren Bruder zu haben, da sie zur gleichen Schule geht. Dabei ist es schon nicht leicht, erwachsen zu werden, wenn man keinen verhaltensauffälligen Bruder zu beaufsichtigen hat. So wie die Staffel Casey genügend Raum gewährt, sich zur vollwertigen Figur zu entwickeln, inklusive erster Liebe und Bewerbung um ein Stipendium an einer Eliteschule, so beleuchtet sie auch die Sorgen und Ausbruchsversuche der Eltern, insbesondere von Mutter Elsa. Die versucht, in einer außerehelichen Affäre Zuflucht zu finden, wird dabei aber schnell von Gewissensbissen geplagt. Darstellerin Jennifer Jason Leigh hat formal die erste Hauptrolle – kein Wunder, ist sie doch nicht nur die Bekannteste im Ensemble, sondern hat auch eine relativ frische Oscarnominierung als beste Nebendarstellerin für „The Hateful Eight“ vorzuweisen – und macht ihre Sache auch durchweg gut.

In den Schatten gestellt wird sie aber durch die beiden Jungschauspieler Gilchrist und Lundy-Paine. Ersterer fiel schon als Sohn von Toni Collette in „United States of Tara“ positiv auf, ist zwar mit 25 Jahren inzwischen eigentlich schon zu alt für die Teenierolle, was aber angesichts seines hervorragenden Schauspiels nicht weiter auffällt. Die Newcomerin Lundy-Paine ist die größte Entdeckung der Serie, vermag sie es doch, die Zerrissenheit der Schwester zwischen Verantwortungsgefühl für den Bruder und ihren eigenen Wünschen nach Selbstverwirklichung und elterlicher Anerkennung ebenso glaubwürdig wie liebenswert zu verkörpern.

Auch die Macher der Serie waren bislang eher unbeschriebene Blätter. Erfinderin und Showrunnerin Robia Rashid hat tatsächlich längere Zeit bei „How I Met Your Mother“ mitgearbeitet (wer hätte gedacht, dass man dabei etwas Gutes lernen konnte?), Regisseur und Produzent Seth Gordon unglaublicherweise den aktuellen „Baywatch“-Film inszeniert. Mit ihren einfühlsamen und an den richtigen Stellen witzigen Drehbüchern und deren gelungener filmischer Umsetzung zeigen die Beiden, dass sie viel mehr drauf haben. Nie gehen die Gags auf Kosten Sams. Lachen muss man eher über die Klarsichtigkeit, mit der der von der Gesellschaft als krank titulierte Junge seine ach so normale Umwelt beobachtet und aus dem Off kommentiert.

Wie die besten Dramedys geht auch „Atypical“ über den reinen Humor weit hinaus, bietet immer wieder Momente zum Mitfühlen und nicht zuletzt zum Nachdenken, zum Hinterfragen des eigenen Weltbilds. Es ist eine Staffel, die man mühelos in ein bis zwei Tagen wegschauen kann, da sie keine Durchhänger hat und in jeder Folge höchst kurzweilig bleibt, ohne jemals oberflächlich zu werden. Nach ebenfalls eher unterschätzten Halbstündern wie „Grace and Frankie“, „Love“ oder in jüngster Zeit „Glow“ bestätigt Netflix mit diesem kleinen Juwel unter den Coming-of-Age-Serien einmal mehr, dass es bei seinen exklusiv in Auftrag gegebenen Comedyserien einfach ein glücklicheres Händchen hat als bei den Dramen. Das Warten auf eine zweite Staffel könnte da ganz schön lang werden.

Die achtteilige erste Staffel ist bei Netflix verfügbar.

 

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