Nach der ausufernden „Heimat“-Trilogie fürs Fernsehen ist Edgar Reitz noch einmal fürs Kino in sein Hunrück-Dorf zurückgekehrt. Diesmal geht es auch zurück in der Zeit: In einem Gegenentwurf zum deutschen Geschichts-„Eventfilm“ erzählt er vom Alltag und den Träumen der Vorfahren der wohlbekannten Familie Simon Mitte des 19. Jahrhunderts.
Er hat es wieder geschafft. Der unermüdliche, unbeirrbare Chronist Edgar Reitz nimmt uns noch einmal an die Hand, führt uns durch die Zeit, zurück in den Hunsrück, nach Schabbach im Jahre 1842. Damals gab es noch kein Deutschland, wie wir es kennen, höchstens vielleicht als Idee in einigen wenigen Köpfen, die noch Zeit für derlei Gedanken fanden. Wir sind in Preußen, der Adel gibt wie eh und je den Ton an, Hungersnot, Krankheit und Elend treiben immer mehr ins Ausland, nach Brasilien, wo Besitz und Wohlstand jene lockt, die ein Handwerk beherrschen. Was in der Heimat zurück bleibt, würde man heute als “Fachkräftemangel” bezeichnen, und man beginnt zu ahnen, dass diese Vergangenheit gar nicht so weit von unserer Zukunft entfernt ist, sich die Gegenwart in unserer Geschichte spiegelt. Umso mehr lohnt ein genauerer Blick.
Dass sich der Dickschädel von Edgar Reitz noch einmal gegenüber der deutschen Förderhölle durchsetzen konnte, ist ihm gar nicht hoch genug anzurechnen. Und ohne einen weiteren deutschen Dickschädel – den von Filmproduzent Günter Rohrbach, der sich unlängst darüber ausgelassen hat, dass es heute fast unmöglich sei, einen Fernsehredakteur ans Telefon zu bekommen – wäre dieses Mal vielleicht gar nichts daraus geworden. Es ist ja nicht wieder eine Serie geworden, die wieder um ein paar Episoden weniger und damit für die Sender billiger ausgefallen wäre, wie schon bei „Heimat 3“ und dem ganzen dazugehörigen Hickhack um die geschnittenen Szenen der TV-Ausstrahlung. So ist dieser Kinofilm vielleicht eine Kompromisslösung gewesen, der als “Event-Zweiteiler” irgendwann nächstes Jahr in der ARD “versendet” wird. Mir schwant auch, dass der Epilog auf das Betreiben eben jener Redaktionen zurückzuführen sein könnte, da man sich dort “etwas Fröhlicheres” gewünscht hat, aber ehe ich mich jetzt in Verschwörungstheorien verliere, erzähle ich lieber von dem Film.
Die Scheiße in den deutschen Straßen
Schon die erste Einstellung führt uns einmal ganz herum, und Gernot Roll darf endlich (!), nach all den Jahren, auch in der Vergangenheit die andere Straßenseite der Simon’schen Schmiede zeigen. Überhaupt ist dessen Kamera, gepaart mit der überwältigenden Leistung des Production Designs und der Ausstattung, eine Wohltat – hier steht die Scheiße in den Straßen, Deutschland steckt fest im Dreck, und man kann sich schnell in Schabbach orientieren, fühlt sich dort zu Hause. Allein, wie eine ausgewählte enge Gasse erzählt wird, die immer mal wieder von Bedeutung sein wird, sei hier als Beispiel herangezogen. Aber dann landet schon ein Buch im Dreck, der erste Schnitt wirft uns ebenso wie Jakob Simon in die Geschichte des Films. Er ist der Träumer, dessen Welt sich aus Büchern speist und im Studium fremder Sprachen niederschlägt, oder wie Georg Seeßlen festhält: “Wenn die Grenzen meiner Welt auch und nicht zuletzt die Grenzen meiner Sprache sind, dann gilt es vor allem, sie zu überwinden.”
Jakob träumt vom Weggehen ohne jeglichen Ballast, er denkt nicht daran, selbst noch Bett und Nachttopf mit in die neue Heimat zu schleppen, wie viele der allgegenwärtigen Auswanderer mit ihren voll bepackten Fuhrwerken. Dann verliebt er sich und steckt andere mit seinem “unnützen” Wissen und Träumereien an. So einen wie ihn gibt es im Hunsrück nicht noch einmal, und so fehl am Platz, wie Jakob dort ist, wäre er es wohl auch in Brasilien unter Indios, selbst wenn er deren Sprache beherrscht.
Dieser Jakob wird großartig gespielt von dem Schauspiel-Neuling Jan Dieter Schneider, womit Edgar Reitz zum wiederholten Male beweist, was er mit seiner Schauspielführung aus Laien hervor zu kitzeln in der Lage ist. Nicht nur ihn, nahezu die ganze Besetzung hat man noch nie gesehen, und sie stand wohl auch zuvor noch nicht vor einer Kamera. Das fällt höchstens bei Maximilian Scheidt, der den Schmied und Vater spielt, zu Anfang noch auf, aber im Laufe der Dreharbeiten ist auch er an seiner Rolle gewachsen. Ebenso famos besetzt ist Jettchen, das love interest von Jakob, die von der Theaterschauspielerin Antonia Bill unwiderstehlich verkörpert wird. Nur ist es um die Liebe in jenen Tagen schlecht bestellt:
“Liebesgeschichten lösten sich noch nicht so vom alltäglichen Leben ab, wie wir das aus unserer individualistischen Sicht von heute fordern würden. Liebe ist eine Himmelsmacht und vielleicht auch eine Naturgewalt, aber man kann Liebe auch lernen. Unter den Umständen, in denen diese jungen Menschen im Schabbach des 19. Jahrhunderts leben, wird nicht nach Liebe gefragt. Da müssen sie aus den Verbindungen das Beste machen und sehen, wo die Gefühle bleiben. Die spätere Ehe (…) ist ein kleines Plädoyer für die Verbindung von Liebe und Vernunft, die möglich ist (…) und zumindest einen Boden schafft, auf dem die Liebe wachsen kann, auf dem man die Liebe auch lernt.” (Edgar Reitz im Presseheft)
Die Frauen sind die Heldinnen der Geschichte
Neben den vielen Nachwuchsdarstellern und Komparsen aus der Region verdient Marita Breuer eine gesonderte Erwähnung, stellt sie doch (neben dem Hunsrück und dem Haus der Familie Simon natürlich) unmissverständlich die Verbindung zu den anderen Mutterfiguren in den „Heimat“-Chroniken her. Die Frauen sind es auch, die die eigentlichen Heldinnen in der Geschichte sind, nicht Jakob. Der hat seine Bücher, träumt, und die Frauen um ihn herum sind es, die ihm diesen Freiraum geben. Die Mutter ist es, die ihn gewähren lässt, wenn er in der Nacht schreibt – sie könnte einschreiten, den Vater wecken, und die Hölle bräche los. Auch die Großmutter drückt ein Auge zu und lässt den Jungen schreiben, obwohl doch die Träume in Vollmondnächten in Erfüllung gehen können – oder so ähnlich, hier empfiehlt sich eine Zweitsichtung. Wie dem auch sei, diese Rückzugsräume zum Lesen und Schreiben halten sie ihm frei, aber Reitz wäre nicht Reitz, wenn er nicht eine “Brechung” einbauen würde – denn auch sein Onkel versteckt ihm bereitwillig seine Bücher. Vielleicht, weil er selbst als Wirrkopf seiner Generation abgestempelt worden war. In solchen Momenten, die man nicht auf dem Präsentierteller serviert oder in redundanten Dialogen um die Ohren gehauen bekommt wie im Pädagogik-TV, möchte man Edgar Reitz die Füße küssen. So geht Kino!
Schon der letzte Zwischenstopp, „Heimat-Fragmente: Die Frauen“, dieses leider verunglückte Sammelsurium aus wundervollen, aber geschnittenen Szenen der drei vorangegangenen Chroniken lenkte nicht nur in seinem Titel den Fokus auf die Frauen. Wenn nun in der „Anderen Heimat“ Jettchen die “vierte Wand” bricht und uns im Spiegel ansieht, sind wir ganz bei ihr und mit der Frage konfrontiert: “Gehen oder Bleiben?”. Sie bläst dann die Kerze aus und verlässt das Zimmer, das Haus, das Land, einer ungewissen Zukunft entgegen. Die eigene Mutter bleibt allein zurück, es gibt noch kein Altersheim, in das man sie abschieben könnte. An einer anderen Stelle zählt Mutter Simon ihre früh gestorbenen Kinder auf, und als diese Liste kein Ende nimmt, ahnt man einmal mehr, was für Zeiten unsere Vorfahren durchgemacht haben. Die zwei erwachsenen Söhne stehen daneben, hören zu, und dem Zuschauer geht vielleicht das Licht auf, dass man bei so viel Verlust den “Überlebenden” alle Liebe zuteilwerden lässt, sie umsorgt wo es nur geht. Hirngespinste hin oder her – sie leben, und das ist ein Wunder, das es zu würdigen gilt.
Doch Reitz wäre nicht Reitz… wenn es da nicht das Schwesterchen mit dem Klumpfuß gäbe, das von allen nur in der Gegend herum geschubst wird, immer “unnütz” im Weg herum steht und vielleicht noch mehr Ungerechtigkeit ertragen muss als Jakob. Oder die große Schwester, die einen Katholiken aus Liebe geheiratet hat, und von ihrem Vater verstoßen wurde. Es gibt eine Szene gegen Ende des Films, in der vier Generationen Frauen im Haus der Simons zusammenstehen, und dieses stumme Einvernehmen zwischen ihnen ist vielleicht das trojanische Herzstück des Films; denn kurz darauf kommen die Männer nach, einer nach dem anderen, und die Welt hat sich eben doch weiter gedreht. Veränderung braucht Zeit – viel Zeit. Und wer lange genug warten kann, gewinnt am Ende. Gandhi musste es noch aussprechen (“Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du“), die Mütter und Frauen wissen es auf schier magische Weise auch so, intuitiv. Mit dem Alter verkürzt sich dann die Sehnsucht, auf das Wesentliche, und nicht alles ist beim Alten geblieben. Wenn der Körper nicht mehr mitspielt, rückt aber schon der nächste Ort in unerreichbare Ferne. Ein großartiger Film.
Parallelen zur Gegenwart
Die Detailfülle ist wunderbar zurückhaltend, obwohl viele der Kostüme und Geräte noch Originale aus dem 19. Jahrhundert sind, die man über Monate im Hunsrück zusammengesucht hat. Zitat aus dem Presseheft: “Ein eigenartiges Gefühl, auch der Horror der vergehenden Zeit weht einen an, wenn man ein Hemd überstreift, von dem man weiß, es wurde wirklich im Jahr 1843 genäht. Nebenbei entdeckte man auch, wie dürr und kleinwüchsig die armen Menschen damals gewesen sein mussten, denn ihre Krägen und Jacken passten kaum einem unserer Darsteller.” (Edgar Reitz)
Einzig die vereinzelten Farbtupfer in Schwarz-Weiß empfand ich dieses Mal als unnötig (etwa die golden schimmernde Münze “Louis d’or”), stellenweise aber sehr schön, wie bei dem Schwenk über das Flachsfeld, in dem die Blüten plötzlich blau werden. Dann gab es zwei entgleiste Compositing-Arbeiten (Komet / Leichenzug im Winter über die Brücke), für die offensichtlich kein Geld zur Verfügung stand, sowie ein paar ungeschickt gesetzte Schnitte, wo das eine oder andere Bild noch einen Tick länger hätte stehen können. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau, denn es hat mich nie aus dem Film gerissen. Die Musikeinlage von Florinchen passte auch nicht so recht in die Zeit, war aber eine Extraportion “Leckschmier” für Fans der „Zweiten Heimat“, ebenso wie der Cameo-Auftritt von Salome Kammer als Chorleiterin in der Kirche, sowie deren unverkennbare Stimme über dem Abspann. Erst mit den Auftritten von Werner Herzog und Edgar Reitz im Epilog flog ich aus dem Film. Die Szenen sind zwar schön, ein verspielter Blick, der tolle Interpretationen zulässt – (Regie-)Propheten, die im eigenen Land nichts gelten; Werner Herzog nur auf der Durchreise; Reitz sitzt stur weiter in Deutschland; etc. – aber eben unnötig.
Was hat das nun mit unserer Zukunft zu tun? Die Schere zwischen Arm und Reich war damals noch weiter geöffnet als heute, insofern lohnt ein Blick, wenn enttäuschte Adelige in der Straße proklamieren lassen, was mit sofortiger Wirkung neu reguliert ist, und es nur verschlossene Türen im Dorf gibt. Der einzige Zuhörer ist ein Junge, der kurz vor dem Hungertod an der Straße im Matsch sitzt, und man weiß zu Beginn der Szene nicht einmal, ob er überhaupt am Leben ist. Der Adel kommt heute freilich in anderem Gewand daher, aber Gesetze und Verordnungen, die von der Lebenswelt der Bevölkerung weit entfernt sind, haben Tradition, die bis ins Heute reicht. Der Unterschied ist, dass es in einer globalisierten Welt keine Rückzugs- und Hoffnungsgebiete gibt, in denen man noch sein Glück suchen könnte. Von uns wird erwartet, flexibel zu sein, der Arbeit nachzuziehen, zu Meetings und Konferenzen zu fliegen, und immer weniger und seltener zu Hause zu sein. Wir verlieren unsere Heimat, und gerne würde ich diese Auflösung des Zuhauses und der Familie im Schabbach des 21. Jahrhunderts reflektiert sehen – sehr geehrter Herr Reitz, übernehmen Sie! Weben Sie weiter an ihren wundervollen Filmen, bis es Sie irgendwann in ferner Zukunft vom Regiehocker haut, und die Erschütterung weit über den Hunsrück hinaus in der Welt zu spüren sein wird.
So stelle ich mir vor, wie Edgar Reitz, immer noch unermüdlich vor sich hin klöppelnd, am Rand des Feldes bei Gehlweiler im Hunsrück sitzt, und während Philosophen fragen, welches Geräusch ein im Wald umfallender Baum macht, wenn niemand da ist, der ihn hört, so fragt der Filmfreund, welchen Eindruck „Die andere Heimat“ macht, wenn niemand hinein geht und sie erlebt?
„Die andere Heimat“ läuft zzt. noch in den deutschen Kinos. Die DVD/BluRay erscheint am 30. April 2014.
“Making of Heimat” am 05. November um 22 Uhr 45 im Bayerischen Fernsehen – und wer den nicht empfängt, wendet sich tags darauf an die Mediathek.
Link-Tipps:
Zur Vorbereitung: Hunsrücker Platt