„Ein Autor hat die Verpflichtung, soziale Realität zu reflektieren“

Paul Abbott ist einer der renommiertesten britischen Fernsehautoren. Er arbeitete an international bekannten Reihen wie  „Cracker“ und erfand die Miniserien „State of Play“ und „Hit & Miss“. Im folgenden Gespräch erzählt er von der Entstehung der US-Adaption seiner Serie „Shameless“, seinem BBC-Drama „Exile“ und den Unterschieden zwischen britischem und amerikanischem Seriengeschäft.

 

Auch in den USA begehrt: der britische TV-Autor Paul Abbott; Foto: cc/University of Salford Press Office

Wie kam es dazu, dass Ihre britische Serie „Shameless“ fürs US-Fernsehen adaptiert wurde?

Die Idee hatte John Wells, der mir mit seiner Produktionsfirma ein Angebot machte. Ich hatte zwar noch Angebote von fünf anderen Studios, die teilweise auch wesentlich mehr Geld geboten haben. Aber Wells hatte die richtigen Argumente. Ich halte ihn auch für einen Meister der kommerziellen Fernsehproduktion. Er hat die US-Version so geschrieben, wie ich selbst sie geschrieben hätte. Wells wollte die Handlung nicht in einem Trailerpark in den Südstaaten spielen lassen, sondern mitten in Chicago. Das Haus der Gallaghers ist so, wie ich mir es gewünscht habe, die Zuschauer sollen denken: „Es mag da stinken und dreckig sein, aber ich würde gerne mit auf ihrem Sofa sitzen.“ Ziel ist es, das Publikum in die Subkultur der Unterschicht hinein zu ziehen, und dazu muss es sympathisch wirken. Die US-Version sieht insgesamt besser aus als das Original, glamouröser, aber die Macher haben Respekt vor dem Element der Armut. Am Anfang war ich sehr nervös, weil ich dachte: „Oh nein, jetzt muss ich alles noch mal machen.“ Aber die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich, obwohl die Dialoge und die Einstellungen größtenteils gleich geblieben sind.

Sind Sie stark in den Produktionsprozess der US-Version involviert gewesen?

Ja, sehr stark. Ich habe 2010, als die erste Staffel produziert wurde, sieben Monate in L.A. verbracht und habe mich während dieser Zeit hauptsächlich vor den großen Networks versteckt. Wenn die mitbekommen, dass man in der Stadt ist, schicken die einem plötzlich absurde Geschenke, Muffins für 100 Dollar und so Zeug.

Sie haben ja viel Erfahrung mit Adaptionen Ihrer Arbeiten für den US-Markt: „Cracker“, „State of Play“, jetzt „Shameless“. Das lief bei Showtime in Kombination mit der Sitcom „Episodes“, in der zwei britische Autoren ihre Erfolgsserie in die USA verkaufen. Finden Sie, die Herangehensweise der amerikanischen Produzenten wird da adäquat dargestellt, wo diese ja im Grunde die eingekaufte Serie bis zur Unkenntlichkeit verändern?

Die Dinge, die in „Episodes“ gesagt werden, sind wahr, aber insgesamt ist es zu cartoonish. Deshalb finde ich die Show etwas langweilig. In der Realität gibt es eben immer auch positive Seiten, nicht nur die negativen. Das Tolle an der Art social comedy, die wir mit „Shameless“ machen, ist ja, dass man innerhalb dieses elastischen Rahmens alle Arten von Storys erzählen kann. Die Serie ist einerseits unheimlich vulgär und laut, aber erlaubt auf der anderen Seite auch, Kommentare zu sozialen Problemen abzugeben. Meiner Meinung nach hat ein Autor die Verpflichtung, soziale Realität zu reflektieren. Aber sie muss in eine interessante Fiktion verpackt werden, sonst wären Sozialarbeiter die besten Autoren. Deshalb ist Drehbuchautor auch der beste Beruf der Welt, weil diese Möglichkeiten bestehen.

Immer für eine Party zu haben: Fiona Gallagher (Emmy Rossum, M.) mit Geschwistern und Freunden; Foto: Warner TV

Wie gehen Sie denn Ihre Bücher an? Trägt „Shameless“ autobiografische Züge?

Ich komme selbst aus einer großen, chaotischen Familie. Der Schreibprozess ist bei mir immer total zufällig. Das ist vielleicht ein Unterschied zur Arbeitsweise bei US-Serien. In den USA gibt es großartige Autoren bei Serien wie „Mad Men“ oder „The Shield“, das ich noch etwas besser finde als „The Wire“. Aber ich will kein tolles Konzept befolgen müssen, wie ich schreiben soll. Ich möchte einfach alltägliche Geschichten wie unter dem Mikroskop betrachten. Ich liebe es, mich selbst zu überraschen, dann kann ich sicher sein, dass auch das Publikum überrascht sein wird. Bei „State of Play“ wusste ich zum Beispiel bei der ersten Episode überhaupt nicht, wo das ganze hinführen soll.

Anders als in vielen Mainstreamserien haben Ihre Bücher immer mehrere Ebenen, man kann als Zuschauer im Hintergrund viele zusätzliche Details entdecken, die mit der Haupthandlung nicht unbedingt zu tun haben.

Viele TV-Drehbücher wirken unnötigerweise wie industriell gefertigt. Deshalb finde ich es auch besser, nur 12 Episoden im Jahr zu machen als 22. Ich habe schon bei der Soap „Coronation Street“, meiner ersten Arbeit fürs Fernsehen, Subtexte in die Bücher rein gezwungen. Manche Regisseure haben Probleme mit Büchern, die viele Schichten haben. Ein schlechter Regisseur, dessen Namen ich jetzt nicht nennen will, hat mal zu mir gesagt: „Ihr Buch hatte ja sieben verschiedene Ebenen, ich habe erst einmal drei rausgestrichen.“ Dabei macht das Verfilmen solcher Bücher gar nicht mehr Arbeit, die Anzahl der Szenen bleibt ja gleich. Bespielsweise hat „State of Play“ auch gar keine besonders intellektuelle Story. Es ging nur darum, die Recherche des Journalisten glaubwürdig zu machen, wie er von einem Befragten zum nächsten gelangt. Das machte das Buch so komplex.

Wollten Sie schon als Kind später einmal Autor werden?

Überhaupt nicht. Ich habe zwar mit 15 angefangen zu schreiben, wusste aber damals noch gar nicht, dass es das auch als Beruf gibt. Zu der Zeit wollte ich Chirurg werden und Menschen in Afrika helfen. Dann habe ich als Jugendlicher einen Literaturwettbewerb gewonnen, das fühlte sich gut an, plötzlich nicht mehr der Dritte oder so zu sein, sondern der Erste. Der Job hat also sozusagen mich gefunden, nicht umgekehrt.

Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Arbeiten?

Dazu reicht es im Grunde, im Restaurant oder in der U-Bahn die Augen offen zu halten. Durch aufmerksame Beobachtung kann man viel mehr über Charaktere lernen, als wenn man sich zu Hause vor einem Blatt Papier den Kopf zerbricht. Ich beobachte etwa ein Paar in einem Lokal und weiß gleich, wie der eine Partner als nächstes reagieren wird. Wichtig fürs Schreiben von Figuren ist, ihnen eine zusätzliche Ebene zu verpassen. Jeder Mensch hat ja mindestens drei Seiten gleichzeitig in sich, deshalb lassen Sie als Autor eine Figur erst einmal lächeln, bevor sie zuschlägt. Oder nehmen Sie einen Koch, der auffallend schön ist. Dann ist den Zuschauern gleich klar, dass er nicht für diesen Beruf geboren wurde, dass er wahrscheinlich früher einmal etwas anderes gemacht hat. Das gibt ihm gleich einen interessanten Background, egal ob sie den später erklären oder nicht.

Sie lieben und sie hassen sich: Frank Gallagher (William H. Macy) und seine Immer-mal-wieder-Partnerin Sheila (Joan Cusack); Foto: Warner TV

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen als Chefautor und den anderen Autoren, die für einzelne Episoden schreiben? Und läuft das in Großbritannien anders ab als in den USA?

Wir betreiben ja inzwischen ein eigenes writers‘ studio. Da herrscht eine richtig häusliche Atmosphäre, die Autoren arbeiten unter einem Dach, wir haben einen Koch und einen Hausmeister. Im Grunde bilden wir die Leute aus und wenn sie richtig gut sind, werden sie von anderen Studios abgeworben (lacht). In Amerika läuft das viel industrieller ab, da sitzen wirklich alle Autoren zusammen in einem Raum. Bei jungen Autoren ist es wichtig, dass du ihre Fehler mit ihnen diskutierst. Du musst die Autoren verbessern, nicht ihre Bücher, sonst machst du das bis zu ihrer Rente.

Bringen Sie sich als Autor auch in die Dreharbeiten ein?

Ich gehe nur für zehn Minuten ans Set. Ich weiß ja, was da passieren wird, denn es hat mich genug Zeit gekostet, diese Szenen zu schreiben. Wieso sollte ich dann noch die Arbeit der Leute am Set machen? Dann müsste ich auch dafür bezahlt werden.

In ihrer Miniserie „Exile“ steht erneut ein Journalist im Mittelpunkt (den wieder John Simm spielt), wie schon in „State of Play“. Woher kommt Ihre starke Faszination für diese Berufsgruppe?

TV-Verantwortliche hassen Journalisten. Bei „State of Play“ ging es ursprünglich gar nicht um einen Reporter, sondern um zwei Freunde, den Journalisten habe ich erst später hinzugefügt. Sie bieten deshalb so ein faszinierendes Sujet für Dramen, weil sie bei ihrer Arbeit keinen formalen Regeln unterliegen. Wenn man selbst nie einer gewesen ist, schreibt man Journalistenfiguren besser. Dafür hatten Daniel Brocklehurst, der die Bücher für „Exile“ nach meiner Idee geschrieben hat, und ich beide Probleme mit unseren Vätern, so wie unsere Hauptfigur.

Haben die Budgetkürzungen bei der BBC auch Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Es ist in den acht Jahren seit „State of Play“ auf jeden Fall härter geworden, diese Art langsam erzählter Dramen durchzusetzen. Ich finde aber, es ist die Aufgabe von TV-Machern, dem Publikum etwas zu zeigen, das es noch nicht kennt.

Gibt es eigentlich schon Anfragen aus den USA, auch „Exile“ zu adaptieren?

Es gibt Interessenten, aber die Beweggründe müssen stimmen. In den USA herrscht großer Appetit auf gute Stoffe, aber das ist kein Grund, sich zu prostituieren.

(aus torrent 1/2012; der Gesprächstext ist eine Kompilation aus einer Publikumsdiskussion und einem von Christian Munder moderierten Werkstattgespräch auf der Cologne Conference 2011. Inzwischen läuft in den USA die dritte Staffel von „Shameless“, die ab 12. April freitags um 21 Uhr 45 beim deutschen FOX zu sehen sein wird.)

 

One comment

  1. „Ich liebe es, mich selbst zu überraschen, dann kann ich sicher sein, dass auch das Publikum überrascht sein wird. Bei „State of Play“ wusste ich zum Beispiel bei der ersten Episode überhaupt nicht, wo das ganze hinführen soll.“

    Das ist übrigens auch eine Leitlinie von Stephen King und George R.R. Martin, zu schreiben, ohne immer gleich zu wissen, wo man ankommt. Oder sich zu erlauben beim Schreiben auf ein Ziel zu vom Weg abzukommen, und sich dort fasziniert um zu sehen.

    Wo bleibt denn mal ein writer’s studio in Deutschland? Das wäre doch mal eine Anregung für ARD und ZDF – allerdings darf man befürchten, dass Neues weit hinten im Programm platziert wird, ob der TATORTREINIGER beim NDR oder LERCHENBERG bei ZDFneo. Mut sieht jedenfalls anders aus.

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