Cicely forever: der Serienklassiker „Northern Exposure“

Ein Eldorado verschrobener Individualisten: Die Bewohner von Cicely; Foto: © 1990 Universal City Studios, Inc. All Rights Reserved.

Was kommt dabei heraus, wenn man einen neurotischen New Yorker Arzt in eine Kleinstadt in der alaskinischen Wildnis versetzt? Eine der besten TV-Serien der 1990er. „Northern Exposure“ ist eine ebenso witzige wie philosophische und herzerwärmende Show zum Thema cultural clash.

In Deutschland hatte „Northern Exposure“ im Grunde nie eine richtige Chance: von RTLplus und Vox größtenteils im Spätprogramm versendet, später teilweise im Nachmittagsprogramm von RTL II und Das Vierte wiederholt, und auf DVD kam die Serie nicht über die erste Staffel hinaus. So ist sie dann auch vielen, insbesondere jüngeren, deutschen Serienfans nach wie vor unbekannt. Ganz anders in den USA, wo CBS zwischen 1990 und 1995 nicht nur sechs Staffeln produzierte, sondern diese auch mehrfach auf DVD erschienen.

Wahrscheinlich war „Ausgerechnet Alaska“, wie die Show – im Grunde treffender als im Original – bei uns hieß, einfach wieder mal zu anspruchsvoll für das breite deutsche Publikum. Vielleicht kam sie aber auch einfach zehn Jahre zu früh, denn thematisch kann sie getrost als Vorläufer für das „Quality TV“ der Nullerjahre gelten. Dabei begann alles ganz klein und unspektakulär: Ursprünglich nahm CBS die erste Staffel nur als Lückenbüßer in sein Sommerprogramm auf. Entsprechend umfasste sie auch nur acht Folgen. Beim Publikum kam die Mischung aus skurrilem Humor und hintersinnigem Drama jedoch auf Anhieb gut an, so dass der Sender sie nach einer zweiten Sommerstaffel ab Herbst 1991 mit vollen Staffeln aufwertete.

Am Anfang steht Dr. Joel Fleischman (Rob Morrow). Der jüdische New Yorker, Großstädter mit Leib und Seele, hat gerade sein Medizinstudium beendet, dank eines Stipendiums des Staates Alaska. Bedingung dafür war dummerweise, dass er nach erfolgreichem Examen vier Jahre Dienst als praktischer Arzt in dem abgelegenen US-Bundesstaat absolvieren muss. Geht er zunächst noch selbstverständlich davon aus, dass die Hauptstadt Anchorage sein Einsatzort werden wird, so belehrt man ihn bald eines Besseren: Die Behörde verfrachtet ihn nach Cicely, ein 215-Einwohner-Nest mitten in der Wildnis. Für den Kosmopoliten Fleischman ein Kulturschock sondergleichen und Ausgangspunkt für unzählige Gags und Geschichten rund ums Thema cultural clashes.

Die Serienerfinder Joshua Brand und John Falsey, die vorher bereits die erfolgreiche Krankenhausserie „St. Elsewhere“ (1982-88; auf Deutsch unter dem irreführenden Namen „Chefarzt Dr. Westphall“ bei RTLplus) zusammen entwickelt hatten, basierten ihre neue Serie auf den Erfahrungen eines Jugendfreundes Brands, einem Mediziner, der zeitweise als Landarzt arbeitete.

Auch wenn der Neuankömmling in den ersten beiden Staffeln in allen Folgen im Mittelpunkt steht, sind die anderen Charaktere nicht weniger interessant. Ist Cicely doch ein wahres Eldorado verschrobener Individuen aus allen Teilen der amerikanischen Gesellschaft, die sich hier ein eigenes Paralleluniversum eingerichtet haben. Von „Chris am Morgen“, dem philosophierenden DJ der lokalen Radiostation und Ex-Sträfling, der auch als Gelegenheitsgeistlicher agiert, bis zu Maurice Minniefield, einem erzkonservativen ehemaligen Astronauten und Multimillionär, dem nicht nur dieser Sender, sondern auch der Großteil der Stadt gehört. Mit seinem besten Freund, dem alten, aber rüstigen Jäger und Kneipenwirt Holling Vincoeur, hat er sich zerstritten, nachdem der ihm Maurices 18-jährige Geliebte ausgespannt hatte, die damalige „Miss Northwest Passage“ Shelly Tambo. Dann sind da noch der cineastische Native American Ed, der wie selbstverständlich in Briefkontakt mit Woody Allen steht, Joels stoische Sprechstundenhelferin Marylin, die ebenfalls einem lokalen Stamm angehört, sowie die resolute 75-jährige Ladenbesitzerin Ruth-Anne. Und natürlich Maggie O’Connell, eine emanzipiert-burschikose Buschpilotin, zu der Dr. Fleischman auf Anhieb eine leidenschaftliche Hassliebe entwickelt.

Aus der Chemie zwischen Fleischman und O’Connell, dem neurotischen intellektuellen Woody Allen-Charakter und der draufgängerischen Praktikerin, deren Ex-Freunde merkwürdigerweise nie lange überleben, gewinnt die Serie einen großen Teil ihres Reizes. Es ist eines der faszinierendsten Paare der TV-Geschichte, vielleicht nur zu vergleichen mit Bruce Willis’ und Cybill Sheperds „Model und Schnüffler“ in „Moonlighting“. Aber die Frage „Kriegen sie sich oder nicht?“ – und wer verliert dabei als Erster seinen oder ihren Verstand – ist lange nicht alles, was „Ausgerechnet Alaska“ ausmacht. Dazu sind allein schon die anderen Hauptfiguren viel zu schillernd, die in den späteren Staffeln auch immer mehr an Bedeutung gewinnen. Obwohl sie alle auch ihre unangenehmen Seiten haben, ist es fast unmöglich, diese liebenswerten Outsider nicht ins Herz zu schließen.

Gestrandet am Ende der Welt: Dr. Joel Fleischman (Rob Morrow); © 1990 Universal City Studios, Inc. All Rights Reserved.

Thematisch und von der Stimmung her ändert sich „Northern Exposure“ ab der dritten Staffel deutlich. Die anfangs meist noch ausgelassene Comedy entwickelt sich zunehmend zum philosophischen Drama, ohne dass der skurrile Humor dafür weichen müsste, vergleichbar vielleicht nur moderneren Serien wie „Six Feet Under“. Größere Story-Arcs wird man hier zwar weitgehend vergeblich suchen (sieht man einmal von dem ewigen Hin und Her der Beziehung zwischen Joel und Maggie ab, die sich aber auch nur selten weiter und dann meist auch gleich wieder zurück entwickelt). Dafür bietet die Show aber geisteswissenschaftliche und popkulturelle Referenzen auf einem hohen Niveau wie kaum eine andere. So diskutiert ausgerechnet Tante-Emma-Laden-Inhaberin Ruth-Anne mit Kinofreak Ed über Louis Malle, um schließlich das Fazit zu ziehen, sie bevorzuge Spike Lee. Und die wortkarge Arzthelferin Marylin antwortet auf die Frage ihres akademisch gebildeten Chefs, was sie von Ibsen halte, der sei ihr zu deprimierend. Themen wie Homosexualität, die Versöhnung zwischen amerikanischen Kriegsteilnehmern und koreanischen Zivilisten nach dem Koreakrieg und immer wieder jüdische Identität behandelt die Serie ganz selbstverständlich und auf hohem Niveau. So stellt Joel in einer Folge, in der es um das schwierige Erbe der indianisch-weißen Beziehungen geht, gegenüber der vorwurfsvollen Marylin aufgebracht fest, er sei Jude, und damit alles andere als weiß.

Eines der zentralen Themen ist aber die Vision eines friedlichen Miteinanders unterschiedlichster Menschen. Cicely ist im Grunde eine idealtypische Idylle, eine perfekte Gemeinschaft, in der sich alle respektieren und meist auch mögen. Alter, ethnische Zugehörigkeit, Herkunft, Bildung, Lebensphilosophie stellen keine Hindernisse für soziale Kontakte und Freundschaften dar. Der Mitte 60-jährige Holling geht mit dem Ende 20-jährigen Chris auf die Jagd, die 75-jährige Ruth-Anne isst zu Abend mit dem knapp 20-jährigen Ed, jeder interessiert sich für den anderen und alle treffen sich in der Dorfkneipe. Komplett unrealistisch, aber herzerwärmend und erstrebenswert. Eine der stärksten Szenen spielt sich dann in der dritten Staffel auch folgerichtig zwischen den Generationen ab: Ed wird sich anlässlich Ruth-Annes Geburtstages über ihr hohes Alter klar und behandelt sie daraufhin wie eine kurz vorm Tod Stehende. Nachdem die Seniorin ihm klar gemacht hat, dass Alter nicht per se etwas Schlimmes ist, tanzen die beiden auf dem Stück Land, das Ed ihr für ihr zukünftiges Grab geschenkt hat: einem Hügel mit einem erhebenden Ausblick über die alaskinische Landschaft.

Ein großer Star wurde leider kein Mitglied des durchweg überzeugenden Hauptcasts. „Chris am Morgen“ John Corbett etablierte sich zumindest als feste Größe im Serienbusiness, vom wiederkehrenden Gaststar in „Sex and the City“ bis zum Ehemann der Titelfigur in „United States of Tara“. Während Holling-Darsteller John Cullum wenigstens in kleineren Serienrollen immer mal wieder auftaucht, so als Dr. Greenes Vater in „ER“ (umgekehrt hatte Cullums Seriensohn Anthony Edwards auch eine Staffelhauptrolle in der vierten „Northern Exposure“-Season), verschwanden andere ehemalige Cicely-Bewohner mehr oder weniger in der Versenkung.

Auch Hauptdarsteller Rob Morrow schaffte den ganz großen Durchbruch nicht, obwohl er es mit Kinohauptrollen wie in Robert Redfords 1994er Drama „Quiz Show“ versuchte. Erst mit „Num3ers“ gelang es ihm 2005, an den alten TV-Erfolg anzuknüpfen. Sein Poker um höhere Gagen bei „Northern Exposure“ führte seinerzeit dazu, dass er zunehmend weniger Screentime bekam und gegen Mitte der sechsten Staffel schließlich ganz ausschied. Vorher hatte es noch einen herrlichen Handlungsstrang gegeben, in dem Joel sich nach einem misslungenen Versuch, mit Maggie zusammen zu leben, als Einsiedler in ein Indianerdorf zurück zieht. Während ausgerechnet der überzeugte New Yorker zum Eremiten wird, ersetzt ihn in Cicely ein neuer Arzt von außerhalb. Spätestens mit dem endgültigen Abschied Joels einige Folgen später, verlor die Serie aber nicht nur ihren Star, sondern auch ihren Charme und Esprit – und einen Großteil ihrer Zuschauer. So wurde die sechste dann auch die letzte Staffel.

Von den beiden Serienschöpfern Brand und Falsey, die als Showrunner in der fünften Staffel von keinem Geringeren als dem späteren „Sopranos“-Erfinder David Chase abgelöst wurden, hörte man danach nicht mehr viel. Ihr parallel zu „Northern Exposure“ produziertes  ambitioniertes 50er/60er-Jahre-Drama „I’ll Fly Away“ (1991-93) um einen Staatsanwalt und seine bürgerbewegte schwarze Haushälterin ist weitgehend vergessen, Brands Medizinerserie „Going to Extremes“ kam 1992 über eine Staffel nicht hinaus. Erst in jüngster Zeit machte Joshua Brand wieder von sich reden – mit gleich zwei neuen Serienprojekten: Während die Comedy „Circling the Drain“ um eine junge Zeitungsreporterin, die dazu verdonnert wird, Nachrufe zu schreiben, noch nach einem Sender sucht, hat NBC „Reconstruction“, ein Historiendrama in der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, nach dem Pilotfilm nicht in Serie gegeben. Zumindest mit den 110 Folgen um die Gemeinde an der „alaskinischen Riviera“ haben sich Brand und sein langjähriger Partner unter Freunden anspruchsvoller Serienunterhaltung aber unvergesslich gemacht.

Werktags um 9.20 Uhr und 10.05 Uhr bei TNT Serie.

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