Die Selbstfindung in der Entfremdung: „The Girlfriend Experience“

Studienfinanzierung ohne Hemmungen: Christine (Riley Keough) bietet die "Girlfriend Experience"; Fotos: Starz

Die Serienversion des gleichnamigen Films von Steven Soderbergh läuft zurzeit auf dem US-Bezahlsender Starz, on demand hat er bereits die komplette erste Staffel bereitgestellt. Warum es sich um einen der interessantesten Neustarts des Jahres handelt und was die Serie mit der soziologischen Theorie Erving Goffmans zu tun hat, erkundet Moritz Stock.

Die Starz-Miniserie „The Girlfriend Experience“ legt einen Bezug zu der wegweisenden Abhandlung „Wir alle spielen Theater“ des Soziologen Erving Goffman nahe. Dieser beschreibt dort sehr präzise alltägliche Selbstdarstellungstendenzen und führt in diesem Kontext den Begriff der Fassade ein. Er meint damit das „standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet.“ Mit der Vorstellung sind grundsätzlich alltägliche Handlungspraktiken gemeint.

In der Serie „The Girlfriend Experience“, die von dem gleichnamigen Film von Steven Soderbergh inspiriert wurde, geht es nun gerade um jene Fassaden und Oberflächen und wie diese schleichend ein dahinter liegendes eigentliches Selbst verschwinden lassen. Diese komplexe Auseinandersetzung mit dem modernen, sich immer weiter individualisierenden und dadurch immer weniger sozial integrierten Individuum stellt den thematischen Kern dieser bemerkenswerten Serienproduktion dar. Mit ihrer kühlen, überstilisierten Hochglanzästhetik und der nie gänzlich greifbaren Hauptprotagonistin führt sie die Zuschauer immer tiefer in eine Welt der anonymen Hotelzimmer und sterilen Bürokomplexe. Die Optik wird dabei stets dominiert von breiten Fensterwänden, Spiegeln und sich halb im Schatten befindenden Akteuren.

Eine Welt der Oberflächen

Die Serie dreht sich um die Jurastudentin Christine Reade, die zu Beginn ein klares Ziel vor Augen hat: eine erfolgreiche Karriere im Rechtssystem. Um diesem Ziel näher zu kommen, arbeitet sie neben ihrem Studium als Praktikantin in einer Anwaltskanzlei, in der starker Konkurrenzdruck herrscht. Ihre beste Freundin und einzige wirkliche Bezugsperson Avery verdient ihren Lebensunterhalt derweil als Escort-Dame und macht sie mit dieser Welt vertraut. Zunächst lehnt Christine ab, an dieser Schattenwelt teilzuhaben, ihre Neugierde und finanzielle Engpässe verleiten sie dann aber doch dazu, sich vereinzelt mit Männern zu treffen. Christine begibt sich unter ihrem Pseudonym Chelsea danach von Folge zu Folge immer tiefer hinein in die Welt der bezahlten Sexualität und Intimität.

Für die Aufrechterhaltung der aufgebauten Fassade muss der jeweilige Akteur nach Goffman eine Kohoränz herstellen zwischen Bühnenbild, Erscheinung und Verhalten. Diese drei Dimensionen werden im Kontext der Serienhandlung in den Vorgrund gerückt, um so eine Welt der Oberflächen zu kreieren. Christine gelingt es immer besser, sich die perfekte Fassade zuzulegen, sie operiert wie selbstverständlich in riesigen, kühl, leer und abstoßend wirkenden Hotelzimmern, erzeugt ein Gefühl des Gesehenwerdens und der Einzigartigkeit bei ihren Klienten, die sich schnell in die falsche und aufgesetzte Intimität verlieben.

Durch ihren Job entwickelt sich Christine zu einer gänzlich anderen Persönlichkeit
Durch ihren Job entwickelt sich Christine zu einer gänzlich anderen Persönlichkeit

Die Staffel zeigt im Verlauf der 13 Folgen sehr eindrücklich die Transformation von Christine zu Chelsea, einen Selbstfindungsprozess, bei dem Christine ihr altes Ich immer weiter abstreift, bis irgendwann das entfremdete Ich zum eigentlichen Ich wird. Das Aufsetzen verschiedener Fassaden und das Spiel mit diesen wird ein immer wichtigerer Teil ihrer Alltagswelt und schließlich zum einzigen für sie noch relevanten Bezugspunkt.

Der Plot wartet besonders im Mittelteil mit einigen Wendungen auf, die eigentliche Erzählung auf der Handlungsebene ist aber viel weniger spannend als die Erkundung der Transformation von Christine/Chelsea, die zunehmend alles von sich stößt, was als echte Nähe bezeichnet werden könnte. Sie macht sich selbst zu einem Produkt, das sich vollständig der Nachfrage anpasst, Illusionen kreiert und Nähe konstruiert. Die Serie pathologisiert ihr Verhalten aber zu keiner Sekunde, sondern stellt es eher als emanzipatorischen Akt der vollständigen Freiheit und Kontrolle über das eigene Leben dar. Christine wird in einer Szene von ihrer schockierten Schwester gefragt, warum sie sich selbst prostituiert. Die Schwester verfällt schnell in schlichtes Psychologisieren und wittert ein nie verarbeitetes Kindheitstrauma bei ihrer kleinen Schwester. Christine antwortet aber, dass der Grund für ihr Handeln einfach ein grundsätzliches Gefallen an der Tätigkeit sei. Die Hauptfigur bleibt auch in diesem Moment eine kryptische Chiffre, die man nie wirklich knacken kann, die nicht nur zu allen handelnden Personen in der Serienhandlung auf Distanz bleibt, sondern auch den Zuschauer permanent von sich stößt.

Jeder wird zum Teil der Warenzirkulation

In der anti-klimatischen finalen Folge der Staffel, die größtenteils nur aus einer langen Sequenz besteht, wird gezeigt, wie Christine vollständig ihr Alter Ego Chelsea annimmt und so endlich auf eine perfide Art und Weise den Prozess der Selbstfindung abschließt. Man mag dies vielleicht als vollkommene Entfremdung vom eigenen Selbst bezeichnen, als vollständiges Verschwinden in einer Rolle, die sie Tag für Tag für die männliche zahlende Kundschaft spielt. Doch gerade diese Entfremdung von alten Ambitionen und die vollständige Abkehr von der Suche nach der eigentlichen Persönlichkeit hinter der Fassade führt zu einer schlussendlichen Selbstfindung.

„The Girlfriend Experience“ erzählt auf verstörend-faszinierende Weise von der Selbstfindung in der Entfremdung. Erst nach der Abkehr von allen Erwartungen, Hoffnungen oder permanenten Selbstbespiegelungen erfolgt das Aufgehen im eigenen Selbst. So wird „The Girlfriend Experience“ am Beispiel einer Milieu- und Persönlichkeitsstudie zu einem Zerrbild einer hoch individualisierten Gesellschaft, in der alles und jeder zum Teil der Warenzirkulation wird, sich dadurch sukzessive von einer vielleicht nie dagewesenen personalen Identität entfernt und schließlich nur das Spiel in und mit aufgesetzten Rollen bleibt. Amy Seimetz und Lodge Kerrigan, die in Personalunion für alle Folgen verantwortlich zeichnen, haben damit zusammen mit ihrer fantastischen Hauptdarstellerin Riley Keough in der überfüllten Serienlandschaft ein außergewöhnliches Meisterwerk und einen der besten Neustarts dieses Jahres geschaffen.

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