Mit seiner furiosen, fehlerfreien Pilotfolge “Bulling Through” entfesselt das Balletdrama von Emmy-Preisträgerin und Serienschöpferin Moira Walley-Beckett („Breaking Bad“) eine mitreißende Wucht, der sich selbst ein Tanzmuffel mit zwei linken Füßen wie ich nicht entziehen kann.
Vielleicht liegt das daran, dass ich den Schmerz von Tänzerin Claire Robbins (Sarah Hay), als sie sich in einer Pause ihrer Vortanzsession einen Zehennagel aus dem Nagelbett zieht, nachempfinden kann, auch wenn in meinem Fall keine Balletschuhe involviert waren. Claire jedenfalls beißt die Zähne zusammen und erstreitet sich nach einem manuellen Eingriff, der auch Rambo gut zu Gesicht gestanden hätte, ihre zwei Minuten Solotanz, die alles oder nichts bedeuten. Zu sehen bekommen wir diesen Tanz jedoch nicht, was ebenso mutig wie brillant von Regisseur David Michôd inszeniert ist, beobachten wir dabei doch ausschließlich das zunehmend angestrengt regungslose Gesicht des künstlerischen Leiters Paul Grayson (Ben Daniels) der “American Ballet Company”, bei der sie sich bewirbt.
Doch keine Sorge, wir bekommen Sarah Hay noch tanzend zu Gesicht. Vielleicht hat sie der eine oder die andere schon an der Semperoper in Dresden tanzen sehen, oder gar im Hintergrund des Ensembles von “Black Swan” entdeckt. Aus dessen Schatten befreit sich “Flesh and Bone” ebenso mühelos wie aus jenen von stilbildenden Tanzfilmen wie “The Red Shoes”, “All That Jazz”, “Fame”, “Flashdance” und “Showgirls” – und das alleine in der atemberaubenden ersten Viertelstunde. Das zeigt sich in jeder liebevollen Kleinigkeit, bis hin zur brillanten Tonmischung von William Sarokin. Habt ihr euch schon mal einen Tonmischer ergoogelt, weil er zwei Mal in kürzester Zeit Gänsehaut bei euch ausgelöst hat? Eben, ich auch nicht. Bis jetzt.
Es gibt eine klassische Montagesequenz, in der Kandidaten ausgesiebt werden und Zeit verstreicht. Wie da das Ballet-Piano allerdings unmerklich in das Streichquartett von Dave Porter übergeht – ja, unmerklich, ich habe es ja erst bemerkt, als mir aufging, dass ein Klavier doch gar kein Streichinstrument ist -, ist unerhört gut. Dann gibt es wenig später gleich noch diesen Moment, in dem Claire, die glaubt, es geschafft zu haben, alles wieder zu verlieren droht und zur Demütigung eine Sequenz vortanzen muss, die sich das Ensemble eigentlich eben erst aneignen soll. Jetzt sehen wir sie tanzen, und die Umgebungsgeräusche verschwinden, man hört nur noch die Musik und das Klackern ihrer Schuhe. Ganz wunderbar ist das.
Doch noch einmal zurück auf Anfang, daher hier jetzt die Opening Credits mit einer von Karen O. (Sängerin der Yeah Yeah Yeahs, von denen wiederum ein Song in der Folge vorkommt. Welcher, wird an dieser Stelle nicht verraten) gesungenen Coverversion des 80er-Jahre-Hits “Obsession” von Animotion, die glücklicherweise kaum mehr daran erinnert:
Denn Claire mag schon immer Ballett getanzt haben, mit sich herum trägt sie noch ein gänzlich anderes Problem. Am Anfang der Folge sitzt sie wie Cersei Lannister eingesperrt in ihrem Zimmer hinter einem Vorhängeschloss, dessen Schlüssel vor den gespreizten Beinen einer ausgedienten Puppe liegt. Als jemand Einlass verlangt, flüchtet sie mit ihrem längst gepackten Koffer durch das Fenster. Am Ende der Folge erfährt man, um wen es sich handelt, ein Abgrund tut sich auf, der vermutlich nicht umsonst an einen alten Hit der Ärzte erinnert.
Ihrer Sexualität ist sich Claire nicht (mehr?) sicher, ihr fehlt Geborgenheit und noch viel mehr, wofür Walley-Beckett weitere starke Bilder gefunden hat: Wie sie sich zum Einschlafen auf der Couch die Decke mit Büchern beschwert etwa, wie sie die selbstbewussten Tänzerinnen im Nobel-Strip-Club bestaunt und deren Bewegungen in sich aufsaugt wie ein Schwamm, oder wie sie sich die Worte von Paul zu Herzen nimmt und später zunächst zögerlich, dann mit einem Funken Selbstvertrauen alleine nackt vor ihrem Spiegel steht. Claire versucht sich von etwas frei zu tanzen und gleichzeitig werfen ihr die anderen Ballerinas bereits Blicke zu, die, wenn sie töten könnten, New York in Flammen aufgehen lassen würden. Tabletten werden geschluckt, es wird intrigiert und mit Kokain-Beutelchen Ping und Pong gespielt.
Dabei ist das keine Überdramatisierung, sondern Ballet-Alltag, wie ihn Moira Walley-Beckett und der ausführende Produzent Lawrence Bender selbst erlebt haben, die beide klassisches Ballett getanzt haben. Man kann froh darüber sein, dass sie sich für dieses Projekt gefunden haben und den durchökonomisierten Ballet-Betrieb von allem falschen Zauber befreien und bis auf die Knochen freilegen. Die Hauptdarsteller sind mit Tänzern besetzt und wissen auch außerhalb polierter Böden zu überzeugen, bis in die Nebenrollen hinein bekommt man in der Pilotfolge ein Gespür für die Charaktere dahinter vermittelt – das geschieht dabei meist so unaufdringlich und nebensächlich, dass man nie Claire und Paul aus den Augen verliert, die klar im Zentrum des Pilotfilms stehen.
Das bringt mich zu Ben Daniels, dessen Darstellung von Paul Greyson mir im obigen Trailer noch Sorgen bereitete, die sich weitestgehend zerstreut haben. Er gibt nicht einfach nur den bisexuellen Bruder im Geiste von J.K. Simmons aus “Whiplash”, sondern liebt vor allem die Selbstinszenierung zwischen Arschloch und Diva, die jedoch beide nur der Maskierung dienen. Was hier versteckt wird, erfahren wir vielleicht später in der Serie. Denn auch er steckt wie Claire voller Ambitionen, strebt nach Höherem und würde dafür über jede Leiche gehen, weil er weiß, dass ihm die Zeit davon läuft. Weder er noch Claire nehmen auf diesem Weg Gefangene, oder wie es auf den Promo-Plakaten der Serie heißt: “Take no Prisoners”.
FUN FACT: In the #fleshandbone Opening Credits, the close up of the pointe shoe in the rosin is MINE 🙂 https://t.co/cfdlFkbIQL
— Moira Walley-Beckett (@YoWalleyB) October 29, 2015
Wer noch mehr erfahren möchte möge sich durch ihren Twitter-Feed der vergangenen zwei Jahre klicken, wo man die komplette Produktionsgeschichte nachlesen kann.
“Flesh and Bone” läuft ab Sonntag (8. November) auf Starz als “Limited Series” (abgeschlossene Serie) in acht Teilen, die Pilotfolge konnte man via Entertainment Weekly bereits für kurze Zeit online sehen.