Sie ist eine jener Serien, die im Giftschrank des ZDF schlummern, weil sie bei der Erstausstrahlung komplett floppte. Auch viele Kritiker ließen kaum ein gutes Haar an der deutschen Variante von „The West Wing“. Wenn man sie dann endlich mal zu sehen bekommt, muss man sagen: zu Unrecht.
2005 hatte das ZDF noch Mut: Da wollte der Mainzer Sender endlich einmal eine Serie in Auftrag geben, die sich vom gewohnten Einerlei der SOKOs und Heile-Welt-Familienserien abheben sollte, die sein Programm normalerweise bevölkern. Orientiert am internationalen Vorbild (konkret ganz klar die Sorkin-Serie, die seit sechs Jahren erfolgreich bei NBC lief), mit dem harten Thema Politikbetrieb und mit der Creme de la creme der deutschen TV-Schauspieler. Aus dem Weißen Haus wurde das Berliner Kanzleramt, der Kölner „Tatort“-Kommissar Klaus J. Behrendt gab den Regierungschef, Allzweck-Serienwaffe Robert Atzorn seinen loyalen Kanzleramtschef. Die Quoten brachen jedoch nach der Auftaktfolge massiv ein. Die viel zu optimistische Prophezeiung des Spiegel sollte sich nicht erfüllen, nach den zwölf Folgen gab es nie eine Fortsetzung.
Aus heutiger Sicht muss man konstatieren, dass das ZDF hier einfach einmal seiner Zeit voraus war. 2005 hatte noch niemand in Deutschland das Wort Qualitätsserie gehört, „West Wing“ war hierzulande noch ebenso unbekannt wie „The Wire“. Natürlich hat „Kanzleramt“ Schwächen, heute erstausgestrahlt würden Kritiker sie aber vermutlich als großen Schritt in die richtige Richtung feiern, Anschluss an internationale Serienstandards zu finden.
Der junge Kanzler und sein Auskehrer
Klar, dass die Fallhöhe wesentlich niedriger ist als bei einer Serie über den Washingtoner Politikalltag. Der Kanzler ist halt kein Mr. President, in Berlin geht doch alles ein paar Nummern beschaulicher zu, wenn es gegenüber Bonn auch „wat die Sischerheit anjeht, katastrophal“ ist, wie ein rheinischer Personenschützer in einem herrlichen Running Gag mehrfach betont. Trotzdem gelingt es der Serie, auf ebenso spannende wie unterhaltsame Weise politische Probleme zu verhandeln, und das mit meist echt guten Dialogen. Mein liebster: ein Gespräch zwischen der Büroleiterin und dem staubtrockenen Kanzleramtsminister. „Haben Sie denn nie für jemanden geschwärmt?“ – „Ich bin Verwaltungswissenschaftler.“ Das charakterisiert diesen Norbert Kraft schon sehr gut, den Atzorn als John-Spencer-Impersonator gibt. Wie Leo McGarry seinem Präsidenten, so hält auch Kraft zu jeder Uhrzeit und in jeder misslichen Lage seinem Chef den Rücken frei. Behrendt wirkt nicht ganz so glaubwürdig als „junger“ Bundeskanzler, der nicht nur äußerlich deutliche Züge von Gerhard Schröder trägt, aber wesentlich idealistischer ist.
Das Private wird politisch
Toll ist Claudia Michelsen als außenpolitische Beraterin und auch Herbert Knaup macht seine Sache als kettenrauchender, dem Alkohol zugeneigter Regierungssprecher gut. In Gastrollen ist von Vadim Glowna bis Mario Adorf zudem wirklich die erste Garde deutschen Filmschaffens vertreten. Für private Verwicklungen sorgen die pubertierende Tochter des verwitweten Kanzlers, die spontan aus dem Internat abhaut und bei ihm einzieht, sowie der junge brillante Redenschreiber und Womanizer (Rob Lowe lässt grüßen), der seine schwangere Frau vernachlässigt und einmal auch betrügt. Wie in den ersten „West Wing“-Staffeln gibt es damit eine Erzählstruktur mit abgeschlossenen politischen Episodenhandlungen (wobei die zu lösenden Probleme hier oft persönliche Ursachen haben, etwa einen Minister, der durchdreht, weil seine Frau im Sterben liegt) und folgenübergreifenden privaten Nebenhandlungen. Auch in der Figurenkonstellation hat man sich deutlich am US-Vorbild orientiert, ohne direkt Geschichten oder Dialoge zu kopieren. Die von Hans-Christoph Blumenberg mitentwickelte Serie steht da schon auf eigenen Füßen.
Blumenberg hat in den 1980ern drei abgefahrene, groß angelegte Genrefilme fürs deutsche Kino gedreht – „Tausend Augen“, „Der Sommer des Samurai“, „Der Madonna-Mann“ -, die leider floppten. Die von ihm inszenierten beiden Auftaktfolgen der Serie sind im Vergleich deutlich konventioneller inszeniert und gehen nicht über den deutschen TV-Standard hinaus, in seinen Drehbüchern blitzt aber doch immer wieder etwas von seinem Spiel mit internationalen Vorbildern durch, wenn sich etwa ein BND-Agent selbständig macht, um seine Macht auszubauen. Manchmal ist „Kanzleramt“ dann eben doch nicht so beschaulich, wie es der Berliner Politbetrieb vermuten lässt. Richtig surreal wird es übrigens, wenn in einer Folge das damalige ZDF-Gesicht Steffen Seibert in einer gefakten „heute“-Sendung das politische Geschehen kommentiert, der inzwischen ja selbst zum Merkel-Sprecher mutiert ist. Etwas ältere Zuschauer werden zudem einige witzige Anspielungen an damals virulente Diskussionen aus dem echten Politzirkus entdecken, wenn etwa Kanzler Weyer einem Journalisten antwortet, von ihm aus könne eine Steuererklärung künftig auch auf einen Bierdeckel passen.
Insgesamt ist die ZDF-Variante kein zweites „West Wing“ und nicht einmal so fesselnd wie das dänische „Borgen“ – aber allemal intelligenter und spritziger als das Meiste, was der Sender seitdem im Serienbereich so produziert hat. Wo die Studios doch mittlerweile jede mittelmäßige Serie vergangener Jahrzehnte auf DVD pressen, wird es Zeit für eine Veröffentlichung dieses übersehenen Vorreiters modernerer deutscher Serien.