Zwei zu Unrecht übersehene HBO-Filme: „Empire Falls“ und „Recount“

Neben allseits gehypten Serien (und einigen unpopuläreren) produziert Vorzeigesender HBO auch regelmäßig aufwändige Fernsehfilme. Diese werden zumindest in Deutschland viel weniger diskutiert – was auch daran liegen könnte, dass man als normaler TV- oder DVD-Konsument von ihnen meist gar nichts zu sehen bekommt, wenn man nicht gerade Sky Atlantic abonniert hat. Unter den TV-Filmen der vergangenen zehn Jahre findet sich manch verborgene Perle, wie die zweiteilige Literaturadaption „Empire Falls“ und das Tatsachen-Politdrama „Recount“ über den Auszählungskrimi nach der 2000er Präsidentenwahl.

Von Marcus Kirzynowski

Drei Generationen hervorragender Schauspieler: Danielle Panabaker, Paul Newman u. Ed Harris in "Empire Falls"; Fotos: HBO

„Empire Falls“ (2005) von Fred Schepisi lief vor einigen Jahren zumindest einmal im deutschen Free-TV – allerdings nur bei ZDFneo, um 20 Uhr 15, wenn man den Sender über DVB-T noch nicht mal sehen kann. Auf eine deutsche DVD-Veröffentlichung wartet man noch immer vergeblich. Einerseits verständlich, da auch die Romanvorlage von Richard Russo nie auf Deutsch übersetzt wurde. Andererseits doch seltsam, da der Zweiteiler mit einer fast schon unglaublichen Starbesetzung gespickt ist: Ed Harris, Paul Newman, Helen Hunt, Robin Wright (damals noch Penn), Aidan Quinn, und in Nebenrollen auch noch Theresa Russell, Jeffrey „Dale“ DeMunn („The Walking Dead“) – und ja, auch Philip Seymour Hoffman, dessen Nennung als Hauptdarsteller an zweiter Stelle im Vorspann aber eine ziemlich dreiste Mogelpackung ist. Er hat im ganzen Film nur drei richtige Szenen, und in der dritten spricht er nicht mal. Newman wurde für seine Altersrolle – seine letzte vor der Kamera, mit fast 80 – völlig zu Recht mit dem Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet und mit seiner Ehefrau Joanne Woodward spielt dann gleich noch eine zweite Oscar-Preisträgerin aus klassischen Hollywood-Zeiten mit.

Die Erzählung beginnt langsam, fast behäbig, mit Standfotos in Schwarz-Weiß und Jeffrey DeMunns Stimme aus dem Off, der die Vorgeschichte der titelgebenden Kleinstadt in Maine rekapituliert. Früher gab es dort eine große Textilfabrik, die der Gemeinde Arbeit, Wohlstand und einen Daseinszweck gab. Dann wurde die Fabrik irgendwann dicht gemacht und heute ist Empire Falls eine dieser typischen Kleinstädte im Mitteleren Westen der USA, die von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wurden und in denen nur noch die Zurückgebliebenen leben. Einer von ihnen ist Miles Roby (Harris), der als junger Mann seine Collegeausbildung in der Großstadt abgebrochen hat, um sich um seine todkranke Mutter (Wright) zu kümmern, und das bis heute bereut. Deren Chefin (Woodward) hatte ihm damals die Leitung ihres Diners anvertraut, mit dem Versprechen, er würde es eines Tages erben. Jahrzehnte später ist die alte Dame immer noch quicklebendig und denkt nicht daran, den Imbiss an Roby abzutreten, den Mann, der ihr und ihrem Laden die besten Jahre seines Lebens geopfert hat. Die Ehefrau (Hunt) ist auch weg, im Begriff, einen neuen Mann zu heiraten, Roby bleiben nur seine bezaubernde Tochter Tick (Danielle Panabaker) und sein gealterter, aber geistig höchst fitter und eigensinniger Vater Max (Newman). Aber es ist nie zu spät, noch einmal neu anzufangen und sich aus den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.

Der Sog großer Romane

In unaufdringlichen, miteinander verwobenen Episoden erzählt der Film seine alltägliche Geschichte vom Leben der „kleinen“ Leute. Dass es sich um eine Literaturverfilmung handelt, merkt man sofort, denn langsam weitet sich die Erzählung – mit Hilfe zahlreicher Rückblenden – zu einer Geschichte der gesamten Stadt und ihrer Bewohner über mehrere Generationen aus. Dabei entsteht mit der Zeit ein Sog, wie man ihn aus den Romanen großer US-amerikanischer Schriftsteller wie Thomas Pynchon oder Jonatham Lethem kennt. Die Figuren wachsen einem ans Herz und am Ende – nach einem ebenso unerwarteten wie in der vorherigen Handlung angelegten schockierenden Gewaltausbruch – hat man das Gefühl, mehr gesehen zu haben als die Geschichte einer einzelnen Stadt oder individueller Menschen: eben auch ein Porträt des heutigen Amerika und eine universelle Schilderung der condition humaine. Aus diesem Stoff hätte man auch eine wunderbare Serie machen können, zumindest hätte der Romanstoff sicher auch für 12 Stunden statt für knapp 3 1/2 gereicht. Und tatsächlich fühlen sich das langsame Erzähltempo, die gediegene Kameraarbeit und die sorgfältige Inszenierung eher so an, als sähe man eine von HBOs klassischen Familienserien wie die „Sopranos“ oder „Big Love“ als einen Fernsehfilm.

Da war er noch der politische Idealist: Kevin Spacey sucht in "Recount" verloren gegangene Stimmen für Al Gore

Ein ganz anderes Tempo legt „Recount“ (2008) vor, ein Tatsachendrama über eine der größten innenpolitischen Krisen der jüngeren US-Geschichte, das (Nach-)Wahldebakel des Jahres 2000, als wochenlang Gerichte und Ausschüsse darüber stritten, ob denn nun Al Gore oder George W. Bush der nächste Präsident werden würde. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auseinandersetzungen über die Frage, welche Stimmkarten in welchem Wahlbezirk von Florida wie lange ausgezählt werden sollen oder dürfen. Schnell macht der Film von Jay Roach und Drehbuchautor Danny Strong klar, dass es dabei nicht darum ging, den Willen der Wähler möglichst genau herauszufinden, sondern um einen Kampf, der mit politischen und (formal-)juristischen Mitteln geführt wurde. Sobald die Parteien verstehen, wie knapp das Ergebnis in Florida wirklich ist, fallen sie mit ganzen Stäben von Juristen, Strategen und ehemaligen Politikern bis hin zu Ex-Außenminister Baker in dem Bundesstaat ein, der plötzlich im Fokus der Weltöffentlichkeit liegt.

Und je länger dieser Kampf dauert, je mehr Gerichtsbeschlüsse und Ausschussentscheidungen verkündet werden, desto mehr hat man den Eindruck, einem absurden Schauspiel in einem Drittwelt-Land beizuwohnen. Da kann jeder Wahlbezirk seine eigenen Stimmkarten entwerfen, werden Stimmen nicht gezählt, weil die Stanzreste der Lochkarten (allein diese Wörter!) nicht richtig abgefallen sind, ist die Einhaltung willkürlicher Termine wichtiger als die akkurate Nachzählung aller Stimmen. Von anderen Unregelmäßigkeiten am Wahltag, die in jeder anderen Demokratie für sich allein genommen eine Wahlwiederholung nach sich gezogen hätten, ganz zu schweigen.

Roach und Strong erzählen diesen auf den ersten Blick trockenen Stoff als packendes Drama über politische Hoffnungen und Enttäuschungen. Kevin Spacey übt als Ex-Stabschef von Al Gore und Leiter seines Teams in Florida schon mal für seine Rolle in „House of Cards“, nur dass er hier noch den idealistischen Politiker spielte. Auch „Recount“ ist hervorragend besetzt mit Ed Begley jr., John Hurt, Tom Wilkinson, Denis Leary, Mitch Pileggi, während sich Laura Dern in einer Mischung aus Parodie und Overacting als ebenso selbstverliebte wie überforderte Staatsministerin von Florida versuchen darf. Das Erzähltempo ist rasant und die mit Fachtermini und rechtlichen Spezifika gespickten Dialoge erinnern an „The West Wing“ – ohne, dass man als europäischer Zuschauer jemals das Gefühl hätte, nichts mehr zu verstehen. Vielleicht können wir Deutschen solche Stoffe einfach nicht erzählen, vielleicht ist unser politisches System aber auch einfach zu langweilig-geordnet, um überhaupt vergleichbar spannende herzugeben. Macht das deutsche Fernsehen eben weiter Filme über blasse Bundespräsidenten und hält das schon für modernes Erzählen.

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