Das Leben nach dem abgesagten Tod: „Rectify“

War die Miniserie „Top of the Lake“ ein Versprechen, löst der Sundance Channel dies mit seiner ersten eigenproduzierten Langserie vortrefflich ein. „Rectify“ erzählt die ebenso faszinierende wie eindringliche Geschichte eines Mannes, der bereits mit allem abgeschlossen hatte, und nun, aus der Todeszelle entlassen, versucht, in sein altes Leben zurückzukehren.

Wie ein Kind, das man in einen Anzug gesteckt hat: Daniel Holden (Aden Young) ist wieder zuhause; Fotos: Sundance Channel

„To rectify“ heißt im Englischen „beheben“ oder „korrigieren“. Genau das würde Daniel Holden (Aden Young), der im Mittelpunkt von „Rectify“ steht, gerne mit seinem bisherigen Leben tun. Denn das lief so schief, wie ein Leben überhaupt nur laufen kann. Schon als Heranwachsender wurde er beschuldigt, seine damalige Freundin vergewaltigt und anschließend ermordet zu haben – und daraufhin zum Tode verurteilt. Die vergangenen 19 Jahre hat er in der Todeszelle verbracht, bis ein neuer DNA-Test seine Unschuld – zumindest anscheinend – beweist und er entlassen werden muss. Nun findet sich der nicht mehr ganz so junge Mann urplötzlich in Freiheit wieder und damit nicht nur in einer Welt, die er nicht mehr wiedererkennt, sondern auch in den Trümmern seines alten Lebens. Time waites for no-one, und das gilt erst recht für einen Menschen, der die Hälfte seines Lebens quasi aus der Welt gefallen war, dessen Horizont sich jahrzehntelang auf eine fensterlose winzige Gefängniszelle und die Aussicht auf den sicheren Tod beschränkte.

Wie eine Mischung aus Peter Pan und – einem freilich durch intensive Lektüre ziemlich intellektuellen – Kaspar Hauser streift Daniel nun durch seine alte Heimatstadt im beschaulichen Georgia, wo ihn Orte und Menschen ständig daran erinnern, dass er die besten Jahre seines Lebens verpasst hat. Halb rührend, halb verzweifelt wirkt es etwa, wenn er auf dem Dachboden seine alten Musikkassetten findet (Fuck iPod!) und anschließend in seinen Jugend-Klamotten seinen erst nach der Inhaftierung geborenen Halbbruder in einen Skatepark begleitet. Dort dreht er dann auf einem BMX-Rad beseelt seine Runden, als sei er ein 16-Jähriger im Körper eines 40-Jährigen.

Ray McKinnon, Schöpfer der ersten Langserie des Sundance Channel, war bisher vor allem als Schauspieler bekannt – auch in einschlägigen Kabelserien wie „Deadwood“ oder „Sons of Anarchy“. Mit seiner ersten Arbeit als Serienautor ist ihm ein ganz großer Wurf gelungen. Schon die Ausgangssituation ist faszinierend: Wie schwer ist es, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, wenn man schon längst mit seinem Leben abgeschlossen hatte, sicher war, nur noch die Hinrichtung vor sich zu haben? Kann man das dann überhaupt: wieder ein „normales“ Leben führen? Und wie reagiert die Gesellschaft, das soziale Umfeld, die eigene Familie darauf, dass man plötzlich nicht nur wieder frei, sondern anscheinend auch noch tatsächlich unschuldig ist?

Nur Nächstenliebe? Bei Tawney (Adelaide Clemens) fühlt sich Daniel verstanden

Während Daniels Mutter Janet (J. Smith-Cameron) und Schwester Amantha (Abigail Spencer, eines der love interests von Don Draper aus der dritten „Mad Men“-Staffel) immer von seiner Unschuld überzeugt waren, sind viele Mitbürger naturgemäß misstrauischer. Aber es dauert (fast) bis zur letzten Folge der ersten Staffel, bis die Ablehnung deutlich spürbar wird. Zunächst scheint es, dass die Kleinstadtgemeinde ihren „verlorenen Sohn“ beinahe durchgängig mit Wohlwollen willkommen heißt. Mit Ausnahme der Angehörigen der ermordeten Hanna natürlich, die erst befriedigt wären, wenn Daniel tot wäre, sowie des damaligen Staatsanwalts, der ihn in die Todeszelle gebracht hat und der danach Karriere bis hin zum State Senator gemacht hat. Erst langsam wird klar, dass es auch in Daniels inzwischen erweiterter Familie Misstrauen gibt: Ted jr. (Clayne Crawford), der Sohn seines Stiefvaters – der leibliche starb während seiner Haftzeit -, ist zwar strenggläubiger Christ, seine Ablehnung gegen Daniel überwiegt seine Nächstenliebe aber deutlich. Zumal sich seine ebenso gläubige Gattin Tawney (Adelaide Clemens) sichtbar zu diesem hingezogen fühlt.

Konfliktpersonal gibt es also genug, aber die größte Spannung zieht die Serie aus den inneren Konflikten, die ihre Hauptfigur mit sich selbst austragen muss. Durch die lange Zeit, die Daniel auf sich alleine zurückgeworfen war, ist er ein sozialer Autist geworden, der zudem bereits seinen Seelenfrieden darin gefunden hatte, das Unausweichliche zu akzeptieren. Nun weiß er nicht so recht etwas mit der zweiten Chance anzufangen, die ihm überraschend geschenkt wurde – und ist sich nicht einmal sicher, ob er diese überhaupt verdient hat. So begibt er sich auf eine Sinnsuche, die gespickt ist mit Versuchungen: sexuellen, aber auch der, in alte (im Gefängnis erlernte?) kriminelle und gewalttätige Verhaltensmuster zurückzufallen. Aden Young spielt diesen inneren Kampf mit sehr sparsam eingesetzten Mitteln. Bei ihm sagt ein Zucken der Mundwinkel jedoch mehr aus als bei vielen anderen ein großer Gefühlsausbruch.

Am Ort des Verbrechens: Anwalt Jon (Luke Kirby) und Daniels Schwester Amantha (Abigail Spencer)

Um ihn herum versammelt sich ein hervorragendes Ensemble toller Schauspieler: Abigail Spencer als liebende große Schwester, die nicht weiß, ob sie ihren Bruder ständig beschützen oder doch besser auf eigenen Beinen laufen lassen soll. Adelaide Clemens, Anfang Juni auch auf arte in der britisch-amerikanischen Miniserie „Parade’s End“ zu sehen, als fast ätherisch wirkende naiv-gläubige Schwägerin, hin und her gerissen zwischen Nächstenliebe und romantischem Begehren. Luke Kirby (der Hamlet-Darsteller aus dem kanadischen „Slings and Arrows“) als engagierter Anwalt, der gleichzeitig eine Affäre mit der Schwester seines Mandanten hat.

Inszenatorisch sticht „Rectify“ vor allem durch seine ungewöhnliche Kameraarbeit aus dem sich mittlerweile einstellenden Einerlei der komplex erzählten US-Kabelserien heraus. Da wird auch mal frontal ins Gegenlicht gefilmt, dass man sich eher in einem europäischen Indiefilm wähnt. Hinzu kommt der gelungene Einsatz von Songs, die oftmals den Seelenzustand der Protagonisten widerspiegeln. War die Miniserie „Top of the Lake“ als erste serielle Eigenproduktion des Sundance Channel ein Versprechen, ist „Rectify“ die Erfüllung desselben, der wohl beste Neustart der aktuellen US-Saison. Spätestens mit den leider nur sechs Folgen der Auftaktstaffel hat sich der Kanal in die erste Liga der Seriensender eingereiht.

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