Do you hear the people sing? Musicals erobern das Serienfernsehen

Der Kunstform Musical wird immer wieder mit Naserümpfen begegnet. Dabei hat sie sich nicht nur längst außerhalb des Broadways zu einer Milliarden-Industrie entwickelt, sondern durchdringt auch immer mehr das serielle Erzählen.

Von Hari List

Alle Außenseiter vereint: der Cast von "Glee"; Foto: FOX

„Du magst Musicals?“, fragt mich der Studienkollege, „das hätte ich dir nicht zugetraut!“ Irgendetwas an meiner Erscheinung identifizierte mich in seinen Augen wohl als Liebhaber anderer Stilrichtungen. Und gleich darauf wird er dem Genre Musical die Daseinsberechtigung als Musik- und Theaterform und überhaupt die künstlerische Qualität absprechen – und mir die Zurechnungsfähigkeit und Männlichkeit.

Dass „Musical“ nicht nur eine Form von Musiktheater umfasst, sondern seit Aufkommen des Tonfilms auch ein relevantes Genre im Kino und Fernsehen darstellt, wird oft übersehen. Obwohl Filmmusik als elementarer Bestandteil von Film- und Fernsehwerken angesehen wird, dort Spannung erzeugt, Stimmungen transportiert oder große Gefühle unterstreicht, scheint für manche offenbar eine unsichtbare Grenze überschritten zu werden, sobald Dialog gesungen und nicht gesprochen wird.

Den Beweis, dass das Musical aber durchaus seine Fans und den damit einhergehenden Erfolg hat, erbringen die Umsatz-Maschinen Broadway, West End und unzählige Tourneeproduktionen – ein Milliardengeschäft. Dabei gibt es auch abseits der großen Bühnen in New York, London oder Hamburg vielfältige Auswüchse – neben dem Kino speziell in Fernsehserien. Dort ist das Genre weiter verbreitet als man denkt. Serienmacher wie Joss Whedon (Firefly, Buffy, Dollhouse) oder Trey Parker und Matt Stone sind ausgesprochene Musical-Fans – letztere verwenden gesungene Passagen nicht nur oftmals in ihrer Serie South Park, sondern lieferten mit The Book of Mormon eines der besten und frechsten Broadway-Musicals der letzten Jahre ab.

High-School-Musicals von Fame bis Glee

Besonders erwähnenswert ist die 80er-Jahre-Serie Fame. Basierend auf dem Erfolg des gleichnamigen Films wurde eine sechs Staffeln umfassende Serie entwickelt, deren Handlungsort – eine fiktive School of Performing Arts in New York – das perfekte Setting für den Einsatz von großen Tanz- und Gesangsszenen bot, sowohl als Bestandteil der Handlung als auch als dramaturgisches Mittel.

2009 startete mit Glee die bis heute erfolgreichste Musical-Serie. Im Kielwasser von Teenie-Kinoerfolgen wie High School Musical oder Camp Rock, aber auch Broadway-Verfilmungen wie Hairspray, Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street, Nine oder Chicago in den Jahren zuvor, konnte sich Glee in der Zielgruppe der 12- bis 19-Jährigen unfassbarer Erfolge erfreuen. In der Handlung kämpft ein Glee Club, eine Art „Freifach Tanzchor“ an einer amerikanischen High School, der hauptsächlich aus den Außenseitern in der Schul-Hierarchie besteht, seit vier Staffeln um Anerkennung in der Schule, Erfolg bei nationalen Wettbewerben und mit allerlei Teenager-Problemen.

Die Musik besteht zum Großteil aus Klassikern, aktuellen Pophits und Musical-Standards aller Generationen, die vom Cast selbst eingesungen und anschließend als Single veröffentlicht werden – was wesentlich zur Refinanzierung dieser teuren Produktionsart beiträgt. Leider bleibt eine ausgereifte Handlung oft auf der Strecke oder wird der Anpassbarkeit von Songs geopfert. Das geht soweit, dass alleine der Songtitel als Berechtigung für ein Lied zu einem bestimmten Zeitpunkt herhalten muss – zum Beispiel besingt der werdende Vater seinen Namensvorschlag für das ungeborene Mädchen gleich mit einer Performance von „Beth“ von KISS.

Pädagogik und Popstars

Nicht zu unterschätzen sind hingegen die pädagogischen Ambitionen der Autoren – ob aus Eigenantrieb oder der Familienfreundlichkeit des Muttersenders FOX geschuldet, sei dahingestellt. Glee transportiert tatsächlich phasenweise gute Messages an die Zielgruppe, die weit über „Sei dir selbst treu“, „Aufgeben tut man einen Brief“ oder „Lebe deinen Traum“ hinausgehen. Neben dem Verhandeln von schwierigen Themen wie Bullying, jugendlicher Sexualität oder ungewollten Schwangerschaften kommen auch weniger konkrete Themen wie Teamwork, Freundschaft oder Umgang mit Religiosität aufs Tapet. Genau das soll ja das Leitmedium TV auch leisten.

Zum weiteren Erfolg von Glee tragen sicher die zahlreichen Gaststars bei, die sich spätestens ab Staffel Zwei die Klinke in die Hand geben: ob Broadway-Stars wie Idina Menzel und Kristin Chenoweth, die beide größere Rollen haben, diverse Popstars von Britney Spears bis Ricky Martin oder bekannte Film- und Seriendarstellern wie Sarah Jessica Parker, John Stamos, Gwyneth Paltrow, Victor Garber oder Jeff Goldblum. Dabei machen die bis dahin nahezu unbekannten Jungdarsteller einen guten Job – schauspielerisch wie gesanglich –, aber die Stars schaden dem Erfolg in der Zielgruppe sicherlich nicht.

Ein Vorteil von Glee ist, dass die Serie im Unterschied zu anderen Serien wie The Big Bang Theory nicht nur von skurrilen Sprüchen einer einzigen Figur lebt, sondern diese nicht nur auf zahlreiche Charaktere verteilt, sondern auch andere Dinge zu bieten hat. Running Gags am laufenden Band, das Wiederentdecken alter Klassiker im neuen Gewand – obwohl manche die Serie dafür der Blasphemie bezichtigen – und die subtile Form der Ironie der vor allem erwachsenen Figuren machen die Serie auch für ältere Semester sehenswert.

Potential verschenkt: Smash

Für die Erwachsenen hat NBC eine Musical-Serie konzipiert, der leider kein langes Leben beschieden war. Smash handelte zwei Staffeln lang von einem fiktiven Marylin Monroe-Musical, das ein Komponistenduo von der Idee in der ersten Folge über die ersten Castings, Proben und Aufführungen am Broadway bis zur Verleihung der Tony-Awards begleitet. Die Songs – von Scott Wittmann und Marc Shaiman geschrieben, die bereits zuvor mit den Musicals Catch Me If You Can und Hairspray Erfolge feierten – behandeln nicht nur die passenden Sequenzen aus Marylins Leben, sondern können oft auch auf die Rahmenhandlung rund um die zwei um die Hauptrolle konkurrierenden Hauptdarstellerinnen übertragen werden.

Wer ist die bessere Marylin? Die Konkurrentinnen in "Smash"; Foto: Universal TV/NBC

In der zweiten Staffel wurde dann der Aufwand verdoppelt. „Bombshell“ – so der endgültige Name des Musicals – ging in die finale Phase und brachte einige Veränderungen mit sich. Einige der Charaktere verließen die Produktion, um mit dem Musical „Hitlist“ einen zweiten Handlungsort zu eröffnen. Ein weiteres Team wurde engagiert, um die Songs dafür zu schreiben und im Staffelfinale kam es zum Showdown bei den Tonys.

Das engagierte Ensemble, immer wieder für längere Handlungsbögen unterstützt von Broadway- wie auch Hollywood-Stars – Uma Thurman, Will Chase, Bernadette Peters, Sean Hayes – konnte nicht verhindern, dass Produzent Steven Spielberg nach zwei Staffeln den Stecker zog. Zuviel war hinter den Kulissen vorgefallen, besonders Chefautorin Theresa Rebeck war offenbar ungeeignet, ihren Erfahrungsschatz am Theater auf das moderne Konzept eines Writer’s Room zu übertragen – sehr auf Kosten der Handlung. Neben all den guten Kritiken und der guten Musik wird Smash wahrscheinlich in die Lehrbücher der Seriendramaturgie unter „Wie man es nicht macht“ Einzug finden – dabei zeigte die Serie sehr viel Potenzial und brauchbare Quoten.

Singende Vampirjägerinnen und Ärzte

Dass Musical-Episoden eine teure Angelegenheit sind – schließlich kommen Kosten für Kompositionen oder Lizenzen, Studioaufnahmen und Choreografien zum Tragen – hindert trotzdem viele Serienmacher nicht daran, zumindest eine Episode oder – wenn nur einzelne Darsteller gesanglich dazu in der Lage sind – wenigstens einzelne Sequenzen als Musicals zu inszenieren. Erwähnenswerte Episoden wären „My Musical“ aus der Serie Scrubs, in der eine Patientin die Welt als Musical wahrnimmt, „Once More, With Feeling“ aus Buffy – The Vampire Slayer, die Joss Whedon als eine seiner Lieblingsfolgen all seiner Serien bezeichnet und wofür er die Songs selbst geschrieben hat, oder Grey’s Anatomys „Song beneath the Song“, in der der überraschend stimmgewaltige Cast passende Indie-Songs zum Besten gibt.

Joss Whedon produzierte außerdem die erfolgreiche 45-minütige Musical-Webserie Dr. Horrible’s Sing-Along Blog mit Neil Patrick Harris und Nathan Fillion in den Hauptrollen und die Online-Videoplattformen sind voll mit weiteren mehr oder weniger gelungen Musical-Serien.

Egal ob 45 Minuten oder eine ganze Serie lang, der Aufwand lohnt sich in den meisten Fällen und sorgt vielleicht dafür, dass die Serien neue Publikumsschichten ansprechen. Im modernen, anspruchsvollen seriellen Erzählen hat das Musical durchaus seinen Platz und seine Berechtigung.

Warum dem Genre Musical, das eigentlich die größte musikalische Bandbreite aller Musiktheaterformen bietet, manchmal mit derartiger Abscheu und Geringschätzung begegnet wird, bleibt offen. Auch vermeintliche Klassik-Kenner scheitern an der Erklärung, warum Verdi, Lehar oder Puccini besser, talentierter, kreativer oder fleißiger gewesen wären als Webber, Sondheim oder Rodgers/Hammerstein. Musical hat sich eine noch breitere Anerkennung als eigenständige Kunstform mehr als verdient – auf der Bühne, wie auch im Fernsehen und im Kino.

Der Studienkollege weiß gar nicht, was ihm entgeht, denke ich mir, während ich mir meine Kopfhörer in die Ohren stecke und ein Lied auf meinem Smartphone auswähle. Es ist kein Musical, aber vielleicht wird es meiner Erscheinung gerecht – wer weiß?

 

One comment

  1. Noch ein paar Links für Interessierte

    Artikel zu den Ereignissen hinter den Kulissen von SMASH
    http://www.buzzfeed.com/kateaurthur/how-smash-became-tvs-biggest-train-wreck

    MIDDLE SCHOOL MUSICAL
    Kindertheatergruppe die kurze Spoof-Musicals zu Filmen und Serien macht. Bisher: STAR TREK, BREAKING BAD und MAN OF STEEL.

    DR. HORRIBLE’S SING-ALONG BLOG
    Gut gemacht und auch für Musical-Verweigerer sehenswert. Simon Helberg (BIG BANG THEORY) ist auch noch dabei.
    http://drhorrible.com/

    COLLEGE MUSICAL
    No-Budget Musical-Webseries. Gastauftritt von Allison Williams (Marnie in GIRLS)

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