Steht der US-Serienmarkt vor einem Kollaps? Fragen und Antworten anlässlich eines Workshops in Berlin

Des Doyle

Der irische Filmemacher Des Doyle ist seit 2016 bei Serien-Insidern bekannt durch seinen Dokumentarfilm ‚Showrunners. The Art of Making a TV Show’. Am 19. und 20. Januar 2019 veranstaltete Scriptmakers, eine bekannte Berliner Agentur für Drehbuchautoren, einen Workshop mit ihm unter dem Titel ‚Introduction to the U.S. TV Landscape’.

Allerdings ging es nicht um das US-Fernsehen insgesamt, sondern ausschließlich um Fernsehserien. Die Teilnehmer kamen aus ganz Deutschland und Österreich angereist, um dem jungen Veteranen des Serienbusiness zuzuhören, der sie alle persönlich kennengelernt und gefilmt hat: JJ Abrams („Alias“; „Lost“; „Fringe“), Hart Hanson („Bones“), Michelle und Robert King („The Good Wife“), Ronald D. Moore („Outlander“; „Battlestar Galactica“), Bill Prady („The Big Bang Theory“), Kurt Sutter („Sons of Anarchy“), Joss Whedon („Buffy The Vampire Slayer“; „Firefly“), Terence Winter („Boardwalk Empire“) und einige mehr. Zum Teil begegnete er ihnen in sensiblen Momenten ihrer jeweiligen Karriere, etwa wenn es nach einem gerade ausgestrahlten Serienpiloten grünes Licht für die erste Staffel gab – oder wenn ein Showrunner den gefürchteten Anruf bekam, mit dem ihm mitgeteilt wurde, dass seine Serie abgesetzt ist und die 200 bis 300 Mitwirkenden in allen Gewerken, die bis dahin jahrelang wie eine große Familie zusammen gearbeitet und gelebt hatten, auf einen Schlag arbeitslos waren. Noch am selben Tag mussten dann die liebgewonnen Sets im Studio geräumt werden, um Platz zu machen für die nächsten.

Überhaupt, dieses Gedrängel! Als Des seine Doku drehte, den größten Teil davon 2014, gab es in den USA gerade einmal hundert Serien und es ging noch beinahe beschaulich zu. Heute sind es über 500! Tendenz weiter steigend. Jedes Fleckchen in den großen Studios ist belegt, alle irgendwie brauchbaren Drehbuchautoren, Regisseure, Schauspieler, Beleuchter und Kabelträger sind ausgebucht. In den Writer’s Rooms der Serienmacher herrscht neben der unaufhörlichen Betriebsamkeit und dem kreativen Adrenalin-Endorphin-Mix die pure Angst, dass die jeweils nächste Folge pünktlich fertig wird.

Des Doyle mit „Buffy“-Showrunner Joss Whedon

Das Serienbusiness ist in ein enges jahreszeitliches Korsett gezwängt: Im Januar und Februar werden die Piloten für neue Serien verbindlich bestellt, im März und April ist die superhektische staffing season, um Regisseure und Schauspieler zu buchen und die Writer’s Rooms mit den richtigen Autoren zu bestücken; gleichzeitig müssen die Piloten bis Ende April produziert sein, damit die Sender entscheiden können, ob sie sich damit auf den Markt trauen – sagenhafte 80 Prozent der Piloten, die inzwischen sieben bis acht Millionen US-Dollar kosten, bleiben in diesem Stadium hängen und verschwinden für immer in der Versenkung –, im Mai müssen die Sender bei den ‚Upfronts‘ der Werbebranche in New York ihre ‚Lineups‘ verkaufen, also den Agenturen mit den Piloten in der Tasche ihre neuen Serienmenüs für die kommende Saison schmackhaft machen; im Sommer wird gedreht, was das Zeug hält, im Herbst beginnen die neuen Serien und die Piloten für das nächste Jahr werden gepitcht.

Dieser Zyklus gilt vor allem für die Broadcaster, die fünf großen Networks ABC, CBS, NBC, FOX und The CW, die ihre Serien wie klassisches Fernsehen terrestrisch ausstrahlen, und für die Basic Cable-Anbieter AMC, FX, TNT, Freeform, Syfy, USA, die zwar Bezahl-Kabelsender sind, aber auch Werbeunterbrechungen haben. Etwas gelassener geht es dagegen bei den Premium-Cable-Anbietern HBO, Showtime und STARZ zu sowie bei den Streamern Amazon, Hulu und Netflix, die unabhängig von Werbeeinahmen sind. Bei ihnen verteilen sich die einzelnen Phasen dieses Zyklus über das ganze Jahr. Doch der werbefinanzierte US-Fernseh- und Serienmarkt ist immer noch vier Mal größer als alle anderen Anbieter zusammen und bestimmt daher diesen immer gleichen jahreszeitlichen Verlauf in der Fernsehbranche. Es werden dort viel mehr Autoren und Regisseure benötigt und sie können in diesem klassischen Bereich auch wesentlich mehr Geld verdienen.

Die einzelnen Folgen in den Serien der Broadcaster müssen genau gleich lang sein und haben eine 5- oder 6-Akte-Struktur für die Werbeunterbrechungen. Das alles gibt es bei Premium Cable und Streamern natürlich nicht, die kreative Freiheit ist dort wesentlich größer und das Mikromanagement, also die Einmischung in die laufende Produktion, durch die Sender erheblich seltener. Die Broadcaster mögen tendenziell eher Procedurals, also Serien mit einer abgeschlossenen Handlung in jeder Folge, deshalb meist Comedys, Cop-, Arzt- oder Anwaltsserien, wie etwa CBS, der seit Jahren erfolgreichste Sender (mit zum Beispiel „Big Bang Theory“), allerdings mit einem Altersdurchschnitt der Zuschauer von über 55 Jahren. Ansonsten bleibt der starke Trend hin zum serialized Erzählen mit folgen- und staffelübergreifenden Handlungen. Doch Netflix, so vertaute Des uns an, sucht gerade auch händeringend ein echtes Procedural.

Des Doyle mit Gillian Anderson und David Duchovny

So ging er mit uns die ganzen Riegen der Sender in den verschiedenen Formaten durch, beleuchtete ihre Profile und empfahl uns die aussichtsreichsten Genres, die wir dort pitchen könnten. Er erzählte auch herzhafte Anekdoten von künstlerischen Giganten, die die Sender teilweise prägen, und von kannibalischen Orks der Filmindustrie, die man auf jeden Fall meiden sollte. So hat etwa Dick Wolff („Law and Order“, „FBI“) für NBC ein inter-show universe mit serienübergreifenden Storys und Schauspielern begründet, während AMC einen Ruf hat, mit seinen Kreativen immer wieder vor Gericht zu gehen, Amazon mit allen Mitteln ein neues „Game of Thrones“ erschaffen will (vielleicht basierend auf der „Trisolaris“-Trilogie des chinesischen SciFi-Autors Cixin Liu, wie ich anderorts gehört habe) und Netflix ein ‚Narrowcaster‘ ist, der für jede Serie vor allem einen neuen Ausschnitt der Welt, ein neues Milieu oder Universum sucht.

Auch in der Art, wie Serien eingekauft werden, reicht die Spannbreite vom einfachen ‚Script Buy‘ eines Piloten, nachdem der Produzent, das Studio oder der Sender damit machen können, was sie wollen, bis zur ‚Straight-to-Series Order‘, wo der Test mit einer Pilotfolge einfach übersprungen und die ganze erste Staffel gekauft wird. Ryan Murphy hat von seiner geplanten Serie ‚The Politician“ sogar die beiden ersten Staffeln ohne Piloten an Netflix verkauft. Und dann gibt es das ganz irre 10/90-Modell, bei dem zuerst 10 Folgen bestellt werden und die Abnahme weiterer 90 Folgen garantiert ist, wenn die vereinbarten Zuschauerzahlen erreicht werden. Das bekannteste Beispiel dafür ist „Anger Management“ mit unserem geliebten Charly Sheen. Übrigens, solche Multi-Camera-Shows wie auch ‚Two And A Half Men“ und „Big Bang Theory“ mit Applaus aus der Konserve werden in den USA von den Jüngeren schon länger als „Alte-Leute-Fernsehen“ bezeichnet und sind daher ein Auslaufmodell. Auch jeder Showrunner, der noch ein künstlerisches Molekül im Körper hat, will den cineastischen Single-Camera-Look für seine Serie.

Im Zentrum dieses Wahnsinns mit Ansage steht die Institution des Showrunners. Das ist die mächtigste Figur im globalen Filmgeschäft seit den gottgleichen amerikanischen Studio-Tycoons der späten Zwanziger- bis Fünfzigerjahre – nur mit einem Vielfachen der Arbeitsbelastung und der ständigen Möglichkeit, von einem Tag auf den anderen gefeuert zu werden. Es passiert nicht oft, aber es gilt immer noch die alte Regel von Steven Bochco („L.A. Law“, „NYPD Blue“): In der ersten Staffel arbeiten die Schauspieler für den Showrunner, in der zweiten Staffel arbeiten alle zusammen, ab der dritten Staffel arbeitet der Showrunner für die Schauspieler. Die Showrunner kommen prinzipiell vom Drehbuchschreiben her. Einige wenige, wie Tom Kapinos („Californication“) schreiben die Drehbücher für alle Folgen selbst; die meisten arbeiten mit Writer’s Rooms, von denen keiner dem anderen gleicht. Es fällt vielen Showrunnern enorm schwer, die ganzen zusätzlichen Management-, Logistik- und Marketingaufgaben zu übernehmen. Wie sagt es Matthew Carnahan („House of Lies“) in Des‘ Doku so schön? „Showrunner sein, das kann man sich so vorstellen, wie wenn man ein Ölgemälde malt oder einen Roman schreibt, während man seine Steuererklärung macht.“ Oder Sarah Treem (‚The Affair“) im Hollywood Reporter: „Als Showrunner bist du definitiv an der Spitze einer Pyramide. Die steht allerdings auf dem Kopf und ihr gesamtes Gewicht lastet auf dir.“

Der Showrunner ist also ein Höllenjob und die Serienmacher stehen sich inzwischen gegenseitig auf den Füßen – trotzdem sollen es immer mehr werden, denn Apple und Disney gehen erst noch richtig an den Start. Wer also lieber eine ruhige Kugel schieben will, der sollte wie der berüchtigte ‚Pilot Whisperer‘ David Nutter (‚The Pacific“, „Flash“, „Band of Brothers“, „Game of Thrones“) nur Serienpiloten verkaufen, damit die entscheidenden Creator-Credits einsacken und fortan für jede produzierte und ausgestrahlte Folge der entsprechenden Serie 30.000 bis 40.000 US-Dollar kassieren, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.

Es gibt also echte Kapazitätsgrenzen, die im amerikanischen Serienbusiness gerade erreicht werden. Da Disney jetzt seinen eigenen Streamingservice aufbaut, produziert vor allem Netflix wie besessen eigene Serien, um nicht nackt dazustehen, wenn Disney seinen Content 2020 von der Plattform abzieht. Auch Warner Brothers will mit WarnerMedia im vierten Quartal 2019 im Streamingmarkt aufschlagen und um HBO, das ihnen gehört, eine viel größere Filmbibliothek aufbauen. Sogar Walmart, das umsatzstärkste Unternehmen und mit über zwei Millionen Angestellten auch der größte private Arbeitgeber der Welt, will da jetzt mitmischen. Gleichzeitig ist noch überhaupt nicht absehbar, wo all die Werbemilliarden hingehen sollen, wenn die werbefreien Premium-Cable-Anbieter und Streamer weiter wachsen, während das Publikum der Broadcaster immer älter wird. Doch es gibt auch Zweifel an diesem Wachstum. Es ist schon die Rede von ‚Peak TV‚, der narrativen Erschöpfung des Publikums von diesem Serien- und insgesamt elektronischen Medienüberangebot. John Landgraf, der CEO von FX und einer der kreativen Säulenheiligen von Des, war es, der diese Münze 2015 in Umlauf brachte. Kürzlich hat auch der eher intellektuelle Filmemacher Paul Schader (‚Taxi Driver“, „First Reformed“) bestätigt, dass er das ähnlich sieht.

Schließlich gibt es noch ein beinahe unheimliches Szenario, nämlich dass die Finanz- und Börsengiganten Facebook, Apple, Amazon, Google, Tencent und Alibaba alle anderen Player, von den Broadcastern über die Prime-Cable-Anbieter bis hin zu Hulu und Netflix einfach aufkaufen. Sie können sich das leisten, da sie zehn bis hundert Mal so groß sind wie die echten Inhalteanbieter. Bei Amazon darf man sich da keine Illusionen machen: Prime Video wird nur betrieben, weil Prime-Kunden pro Jahr im Schnitt doppelt so viel Geld auf Amazon ausgeben wie solche, die Prime nicht abonniert haben. Das Filmgeschäft ist für Amazon also nur ein Köder, und vielleicht ist es dann für den Handelsriesen einfacher, demnächst einen der etablierten Anbieter zu schlucken. So oder so, es könnte demnächst einen großen Knall im US-Serienbusiness geben. Wir dürfen gespannt sein, ob es dann eine Implosion oder eine Explosion ist.

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