Hemmungslose Fabulierlust: „The OA“ ist wie ein Indiefilm in acht Teilen

The OA
Ungewöhnlicher Gesprächskreis: Prairie (Brit Marling) sammelt fünf weitere Außenseiter um sich; Foto: Netflix

Mit seiner neuen Mysteryserie wandelt Netflix auf den Spuren seiner Erfolgsserie „Stranger Things“ von 2016 – allerdings ungleich origineller und esoterischer. Der Achtteiler nimmt sich für eine US-Serienproduktion erstaunlich viele Freiheiten und legt es gar nicht erst darauf an, es möglichst vielen Zuschauern recht zu machen. Wer durchhält, wird jedoch mit einem seriellen Highlight belohnt.

Ein mit dem Handy filmender Junge, der mit seiner Mutter im Auto unterwegs ist, wird zufällig Zeuge, wie eine junge Frau von einer Brücke springt. Das Video landet bei YouTube und wird ein viraler Hit, die Frau, die den Sprung überlebt, zum Medienstar. Vor allem, da sich herausstellt, dass es sich um eine seit sieben Jahren spurlos Verschwundene handelt. Die Frau hat seltsame Narben auf dem Rücken, wirkt verwirrt, anwortet nur ausweichend auf die Fragen der FBI-Beamten und nennt sich selbst lediglich „The OA“. Sie kann trotzdem schnell als Prairie Johnson identifiziert und mit ihren Eltern zusammengeführt werden. Die erkennt sie jedoch zunächst nicht, was daran liegt, dass sie sie noch nie gesehen hat – sie war vor ihrem Verschwinden nämlich blind, hat nun aber ihr Augenlicht wiedererlangt.

Die erste Stunde der gut 70-minütigen Auftaktfolge verläuft noch in relativ konventionellen Bahnen: Es ist die Geschichte einer lange Abwesenden, die lernen soll, wieder in den bürgerlichen Alltag und ihre Familie integriert zu werden, wie wir sie in ähnlicher Form aus Serien wie „Rectify“ oder mit übernatürlicher Komponente aus „Les Revenants“ und „Resurrection“ kennen. An letzeres erinnern insbesondere die Eltern, hier großartig gespielt von Alice Krige und Scott Wilson (als Hershel Greene jedermanns liebste Vaterfigur in „The Walking Dead“): ein älteres Ehepaar, das in bereits fortgeschrittenem Alter ein kleines Mädchen angenommen hat und jetzt, als Rentner, überbesorgt versucht, die Tochter wieder ins Leben zurückzuführen. Durch Prairies verzweifelte Bemühungen, einen Internetzugang zu bekommen – den die Eltern ihr aus Sorge verweigern -, lernt sie verschiedene andere, höchst unterschiedliche Außenseiter kennen: den aggressiven, mit Drogen dealenden Schüler Steve (Patrick Gibson), den Musterschüler aus schwierigen Verhältnissen Alfonso (Brandon Perea), den schluffigen Waisen Jesse (Brendan Meyer), das Transgender-Kid Buck (Ian Alexander) und die einsame Lehrerin Betty (Phyllis Smith), die die Motivation für ihren Job verloren hat und um ihren Bruder trauert.

Traurige Poesie wie aus dem Märchenbuch

Bis dahin hat man das alles schon mehrfach irgendwo anders gesehen, aber als Prairie nach einer Stunde Laufzeit beginnt, ihren neuen Bekannten in einem leer stehenden Haus ihre Geschichte zu erzählen, wartet der Pilot mit einem echten Überraschungseffekt auf: der Einblendung „Netflix presents“. Tatsächlich beginnt die Serie nun quasi noch einmal neu: Während die übrigen „Anfangstitel“ eingeblendet werden, sehen wir Luftaufnahmen einer russischen Stadt wie aus dem Märchenbuch, mit verschneiten Wäldern, gefrorenem Fluss und Kreml-artigen Türmen. Hier ist Prairie in den ersten Lebensjahren aufgewachsen und hatte eine Nahtoderfahrung, die ihr weiteres Leben entscheidend prägen sollte. Die Visualisierung dieses Erlebnisses erinnert in ihrer traurigen Poesie an den Vorspann der französischen Mysteryserie „Les Revenants“. Mit einem Wahnsinnscliffhanger endet die erste Folge – wie auch die weiteren.

Die nächsten Episoden spielen meist auf zwei Zeitebenen: In der Gegenwartshandlung sehen wir Prarie den anderen Außenseitern allabendlich ihre Erlebnisse erzählen, erleben mit, wie sich die so ungleichen Zuhörer anfreunden und Eltern sowie ein FBI-Opferbetreuer versuchen, an die junge Frau heranzukommen. Auf der anderen, spannenderen Ebene lernen wir nach und nach ihren unglaublich klingenden Lebens- und Leidensweg kennen. Man sollte hier nicht zu viel vorwegnehmen, aber darf wohl verraten, dass es um grausame Experimente geht, die die Grenzen der menschlichen Existenz verschieben sollen. Die erzählerischen Sprünge, die die Serie dabei macht, werden sicher manchen Zuschauer verschrecken, der nicht bereit ist, den Autoren bei jeder Wendung bedingungslos zu folgen.

Genau das ist hier aber notwendig, um die Serie genießen zu können. Es geht den Serienschöpfern Brit Marling (die auch die Hauptrolle der Prairie spielt) und Zal Batmanglij (der alle Folgen selbst inszeniert hat) weniger um Logik als um ein eigenes philosophisch-fantastisches Weltkonzept – worldbuilding im wahrsten Sinne des Wortes, aber eben verknüpft mit dem Alltagsleben in der amerikanischen Provinz inklusive kiffenden und koksenden High-School-Kids.

Deutliche Indie-Anmutung

Eine wichtige Rolle spielen auch Träume, die hier eher als Vorahnungen dienen, ähnlich wie in der Mysteryserie „Falling Water“. Während in der kurz vor der Veröffentlichung von „The OA“ auf dem USA Network gestarteten Serie jedoch sämtliche Genreklischees übererfüllt und komplett glatte und austauschbare Figuren, gespielt von lauter hübschen Schauspielern, präsentiert werden, folgt die Netflix-Produktion einem gänzlich entgegengesetzten Ansatz. Marling und Batmanglij stammen aus der Independent-Kinoszene, haben zusammen bereits mehrere Filme auf die Beine gestellt, die auf dem renommierten Sundance-Festival liefen. Auch ihre erste Serie hat eine deutliche Indie-Anmutung: Die Bildgestaltung wirkt oft experimentell, findet dabei immer wieder wunderschöne visuelle Entsprechungen für die mystische Stimmung. Ihre Figuren, insbesondere die von Marling selbst verkörperte Prairie, sind auf den ersten Blick wenig zugänglich, laden durch ihre Probleme und ihre gesellschaftliche Außenseiterrolle mit der Zeit aber umso stärker zur Identifikation ein. Der Geschichte merkt man vor allem die Lust am hemmungslosen Fabulieren an, die sich auch darin äußerte, dass die Serienschöpfer die Story bei der Sendersuche überwiegend mündlich präsentierten. Über einige unwahrscheinlich wirkende Handlungen einzelner Figuren in späteren Folgen kann man dabei großzügig hinwegsehen.

Bemerkenswert ist wieder einmal, wie viele Freiheiten Netflix den Filmemachern bei der Gestaltung ihrer Serie ließ. Die kauzige Idee mit den verspäteten Titeleinblendungen beim Piloten setzt sich mit der höchst unterschiedlichen Länge der einzelnen Episoden fort. Die dauern anfangs um die 60, später aber auch mal nur 31 Minuten. Abgesehen von den wirklich gelungenen Cliffhangern ist „The OA“ aber ohnehin eine Serie, die man, wenn sie einen einmal gepackt hat, in möglichst kurzer Zeit zu Ende gucken wird. Nachdem die Autoren schon vorher immer wieder Zuschauererwartungen gebrochen haben, präsentieren sie zum Schluss noch eine gleich zweifache Wendung, die die ganze Handlung in einem neuen Licht erscheinen lässt. Manche werden sich davon vor den Kopf gestoßen fühlen, andere dieses poetisch-kraftvolle Ende bewundern, das noch lange nach dem Abschalten zum Nachdenken anregt.

Die erste Staffel ist bei Netflix verfügbar. Dieser Text erschien zuerst bei TV Wunschliste.

 

3 comments

  1. und so konnten auch die Hypochnder und bio-vegan-slow-schalt-kreislr und Gutmenschen
    ihren Sitzkreis um den Tv legen und wars… gäääähn 🙂

    1. Hat da jemand tatsächlich mit der Einstellung die Serie zu Ende geschaut oder nur mal reingeblinzelt ? Hauptsache irgendein Mumpitz absondern…….

Schreibe einen Kommentar zu Jens Prausnitz Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.