Für das aktuelle „Goldene Serienzeitalter“ werden immer wieder die gleichen Beispiele angeführt: „Breaking Bad“, „Mad Men“, vielleicht noch „Homeland“. Aber auch abseits von HBO, AMC und Showtime gibt es Überraschungen zu entdecken, im Network-TV, bei kleineren Sendern oder in Europa. Heute: ein perfektes Beispiel für eine fesselnde Networkserie, wie sie heute nicht mehr gedreht wird.
Zugegeben, ein Geheimtipp ist unsere heutige Empfehlung in keinerlei Hinsicht. Dafür war die WB/CW-Serie über das ungewöhnliche Mutter-Tochter-Gespann Lorelai und Rory Gilmore auch im deutschsprachigen Raum viel zu erfolgreich, läuft seit 2014 auf Sendern wie Vox, ORF eins und aktuell auf dem Disney Channel und ATV rauf und runter. Trotzdem sorgte die Ankündigung, dass die Kollegen Hari und Georg einen Podcast über die Serie für unsere Seite machten, bei manchen für Verwunderung, passt sie eben überhaupt nicht in das übliche Schema der „komplex erzählten“ Dramaserien, die wir hier normalerweise so besprechen – was sie nicht weniger gut und eher unterhaltsamer macht als das allermeiste, was HBO & Co jemals produzieren ließen.
Was ich hingegen überhaupt nicht gelten lassen kann, ist der Vorbehalt, es handele sich um eine „Frauenserie“. Abgesehen davon, dass ich nie verstanden habe, was eigentlich ein „Frauenfilm“, ein „Frauenroman“ oder eben eine „Frauenserie“ sein soll, passt diese fragwürdige Kategorie noch weniger auf „Gilmore Girls“ als etwa auf „Sex and the City“ oder „Desperate Housewives“, denn weder geht es hier um Themen wie Make-Up oder Bodymass-Index, noch würden die Folgen beim berüchtigten Bechdel-Test durchfallen. Klar, über Männer reden die beiden Hauptfiguren auch oft, aber eben auch über skurrile Filme, alte Fernsehserien, gehobene Werke der Weltliteratur, ihre schrägen Nachbarinnen, die Collegeausbildung der Tochter oder das leckerste Junk Food. Und nur weil eine Serie hauptsächlich von Frauen handelt, ist es noch keine Frauenserie, denn so viel Empathiefähigkeit erwarte ich von jedem halbwegs vernünftigen Menschen, dass er sich soweit in Angehörige des anderen Geschlechts einfühlen kann, dass er deren Probleme, wie sie hier verhandelt werden, nachvollziehen kann. Vor allem aber sind die Figuren so liebenswert, das Setting so herzerwärmend, dass schon ein Steinklotz sein muss, wer sich davon nicht angesprochen fühlt.
Mehrere Generationen, High School, College: Für jedeN was dabei
Die alleinerziehende Lorelai (Lauren Graham) ist nur 16 Jahre älter als ihre einzige Tochter Rory (Alexis Bledel), weswegen ihre Beziehung eher einer Freundschaft ähnelt. Nicht von ungefähr hieß die Serie zum Beispiel in Italien „Una mamma per amica“. Fast noch reizvoller ist, dass die üblichen Eigenschaften von Eltern und Kindern hier umgekehrt verteilt sind: Während Lorelai die Unangepasste, „Wilde“ ist, ist Rory die Brave, Strebsame, meist auch die Vernünftigere. Warum Lorelai so geworden ist, deutet schon die Pilotfolge an: Weil sie ihr ganzes Leben lang gegen ihre eigene Mutter Emily (Kelly Bishop) rebellieren musste, die ihr mit ihrer streng-konservativen Art und dem wohlhabenden „Old Money“-Familienhintergrund als Jugendliche kaum Raum zum Atmen ließ. Zum vorläufigen Bruch zwischen den beiden kam es, als Lorelai mit 16 Jahren schwanger wurde und sich weigerte, ihren Freund Christopher zu heiraten, „wie es sich gehört hätte“. Stattdessen suchte sie sich einen Job als Zimmermädchen im beschaulichen Städtchen Stars Hollow, brach die Schule ab und zog ihre Tochter alleine groß. Die nie endenden Konflikte aufgrund der diametral entgegengesetzten Lebenseinstellungen von Emily und Lorelai und die Versuche der Großeltern, an Enkelin Rory alles nachzuholen, was sie mit Lorelai nicht erreicht haben, sind das zweite große Thema der Serie.
Durch den Wechsel Rorys von der örtlichen High School an eine Eliteschule im Nachbarort kommt gleich in der zweiten Folge noch ein drittes Thema/Setting hinzu. Jede zweite bis dritte Folge spielt zu großen Teilen an dieser Schule, die mit ihrem gehoben-konservativen Ambiente, dem strengen Direktor und den MitschülerInnen aus „gutem Hause“ für eine „Hanni und Nanni“-Atmosphäre sorgt. Insbesondere bieten die Handlungsstränge um Rorys neue Schule aber auch einen Anlass, mit der noch ehrgeizigeren Paris (Liza Weil) die vielleicht witzigste Figur der ganzen Serie einzuführen. Ihre immer neuen Bemühungen, die Beste zu sein, sorgen für eine endlose Reihe grandios überzeichneter Ansprachen, Monologe und Situationen. Dass die AutorInnen trotz aller Lobeshymnen auf den Wert von (höheren) Bildungsinstitutionen immer auf der Seite der Individualisten stehen, die sich deren Zwängen auch widersetzen, zeigt schon relativ früh eine Folge der ersten Staffel, in der Rory von einer Vertrauenslehrerin aufgefordert wird, doch stärkere Kontakte zu ihren Mitschülern aufzubauen, statt mit Buch und Walkman in der Mensa zu sitzen. Am Ende der Episode wird klar, dass nichts falsch daran ist, „anders“ zu sein.
Auf dem Papier hört sich das Serienkonzept bis hierher vielleicht etwas (zu) generisch an. Tatsächlich werden geschickt verschiedene Zielgruppen angesprochen: Während sich die etwas älteren ZuschauerInnen in Lorelais Bemühungen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wiedererkennen können, identifizieren sich TeenagerInnen und Anfang-20-Jährige wahrscheinlich eher mit Rorys Versuchen, sich an der High School zu integrieren – oder ihren Beziehungen mit wechselnden „Boy-Friends“.
Die Kleinstadt als Mikrokosmos
Hinzu kommt dann noch der soziale Mikrokosmos Kleinstadt, where everybody knowes your name (und immer bestens über jede und jeden auf dem Laufenden ist), mit lauter skurrilen, immer wiederkehrenden Mitbürgern, die stark an „Northern Exposure“ erinnern lassen. Ein Ort mit einer fast schon märchenhaft überhöhten Atmosphäre. Anders als Cicely, Alaska, wirkt mir Stars Hollow allerdings zu zuckersüß (und die Mitbürger manchmal zu aufdringlich), als dass ich sofort dorthin ziehen würde. Dass das Städtchen zudem so künstlich wirkt, liegt daran, dass es tatsächlich komplett auf dem Studiogelände von Warner Bros. im kalifornischen Burbank stand – nichts mit On location-Drehs also. Das ist eines der Überbleibsel des klassischen Fernsehens, die mir bei der Serie eher unangenehm auffallen. Ein anderes ist die manchmal doch sehr konservativ-amerikanisch wirkende Weltsicht. So scheint es selbst in der liberalen Erziehung von Lorelai unvorstellbar, dass ihre 16-jährige Tochter Sex mit ihrem festen Freund haben könne/wolle (auch für die Tochter selbst). Darüber hängt ja schließlich immer das Damoklesschwert, das Schicksal der Mutter könne sich wiederholen. Von Verhütungsmitteln hatte man wohl in Connecticut Anfang der Nullerjahre noch nichts gehört?
Von solchen wohl auch dem Auftraggeber Networkfernsehen geschuldeten Kleinigkeiten abgesehen, gibt es an der Serie jedoch kaum etwas auszusetzen. Sie bietet all das, was die gehobenen Networkserien der 90er- bis Nullerjahre auszeichnete: sympathische Figuren, gute Schauspieler, interessante Konflikte und vor allem tolle Dialoge. Diese in doppelter Geschwindigkeit ausgetragenen Rededuelle, insbesondere zwischen den Gilmore Girls selbst, sind hier das Salz in der Suppe, das eigentliche Alleinstellungsmerkmal der Serie: witzig und unheimlich gewitzt, intelligent. Auch wenn die Procedural-Elemente gegen die größeren Handlungsbögen überwiegen, da doch die meisten Probleme am Ende der jeweiligen Folge gelöst sind, ist die Suchtgefahr extrem hoch. Nicht zuletzt dank der schnellen Dialoge fliegt die Laufzeit von rund 42 Minuten quasi vorbei und der hohe Unterhaltungs- und Wohlfühlfaktor verleitet zum Klicken auf die nächste Episode, obwohl man doch eigentlich noch etwas ganz Anderes gucken wollte. Das hat auch Netflix gemerkt und bietet seit kurzem auch in Deutschland den perfekten Binge-Watching-Service mit allen 153 Folgen – und die Fortsetzung in Form von vier 90-Minütern unter dem Titel „A Year in the Life“ lässt der Streamingdienst gerade drehen. Serienschöpferin Amy Sherman-Palladino, die sich mit ihrer Kreation nicht hinter Serien wie „The West Wing“ oder „Northern Exposure“ zu verstecken braucht, ist wieder mit an Bord.
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