Der Blick durchs Guckloch

Die „Fahnder“-Folge „Bis ans Ende der Nacht“ ist ein hoch verdichtetes Geiseldrama in 45 Minuten. Dominik Graf und Rolf Basedow erzählen darin von ungewöhnlichen Allianzen und den zwei Gesichtern eines Ministerialbeamten.

Die Handlung wirft uns mitten hinein ins Rotlichtmilieu. Faber sucht den Zuhälter Girtler in dessen Bordell auf, um ihn nach seinen Geschäftspraktiken mit Thai-Mädchen zu fragen. Danach legt er ihm noch einige Fotos von vermisst gemeldeten Mädchen vor, eines davon hat das bezaubernde Gesicht der jungen Meret Becker. Als aus dem Nebenzimmer Peitschenhiebe und lautes Stöhnen herüberdringen, beginnt Girtler, über seine Kunden zu klagen, die zunehmend schon in jüngerem Alter auf immer härtere Praktiken abfahren, vor allem wenn es sich um  Männer in wichtigen Positionen handelt: Richter, hohe Polizeibeamte. „Willst du mal sehen, vielleicht kennst du den?“, fragt er den Fahnder. Faber guckt durch ein Loch in der Wand ins Nebenzimmer, wir sehen nur sein Auge, nicht das, was er sieht. Aber es ist offensichtlich: Er kennt diesen Freier, der sich nebenan auspeitschen lässt. Den Zuhälter Girtler spielt ausgerechnet Klaus Lemke, einer der letzten wirklichen  Independentfilmer Deutschlands,  der seit 40 Jahren in Filmen wie „Rocker“ (1971) vom harten Leben auf der Straße erzählt. Eines von Dominik Grafs großartigen Besetzungsmanövern.

Vor und zwischen seinen großen Thrillern fürs Kino „Die  Katze“ (1987) und „Die Sieger“ (1994) inszenierte Graf ein gutes Dutzend Folgen für  die langlebige ARD-Vorabendserie  „Der  Fahnder“ (1984-2005). Einige dieser 45-Minüter sind große Dramen in verdichteter Form. In Episoden wie „Über dem Abgrund“ (1986) und „Nachtwache“ (1993) nahmen Graf und seine Drehbuchautoren Motive vorweg,  die sie später in  längeren Filmen weiter entwickelten: die Begegnung eines Polizisten mit einem seit Jahren für tot gehaltenen Kollegen taucht in „Die Sieger“ wieder auf, die einsame Zeugin, der sich der Bewacher seelenverwandt fühlt, im „Polizeiruf“ „Der  scharlachrote  Engel“  (2003). Auch erprobte  Graf beim „Fahnder“ die  Zusammenarbeit sowohl mit Schauspielern wie Hannes Jaenikke oder Peter Lohmeyer als auch mit späteren Stammautoren wie Günter Schütter oder Rolf Basedow. Von Basedow stammt auch das Buch zu „Bis ans Ende der Nacht“ (1990).

Einer gegen den Polizeiapparat

Der Film erzählt von zwei verlorenen Seelen, der Tochter aus gutem Hause Nadine (Meret Becker) und dem Kleinganoven Sigi Schmidt (Heinz Hoenig). Erstere, von zu Hause abgehauen, findet Faber kurz nach seinem dienstlichen Bordellbesuch auf einer Party. Letzteren nimmt Streifenpolizist Otto (Dieter  Pfaff) nach einem versuchten Autoklau fest. Einen Moment der Unachtsamkeit nutzt Schmidt im „Aquarium“,  der  Baracke  auf dem Hof des Polizeireviers, um eine Pistole an sich zu reißen. Er nimmt Faber und Nadine als Geiseln. Seine Forderung ist ungewöhnlich: Er will, dass seine Frau zu ihm zurückkehrt. Während draußen der Polizeiapparat inklusive SEK-Aufmarsch und Einmischung  vom Innenministerium anläuft,  versucht Faber drinnen,  die Lage unter Kontrolle zu behalten. In dem Mann vom Ministerium namens Guten (Heinrich Schafmeister), der das Kommando an sich reißt, erkennt er ausgerechnet den Mann aus dem Bordellzimmer. Und dessen Bild arbeitet noch immer in ihm. Basedow braucht übrigens keinen Dialogsatz, um das Wiedererkennen zu verdeutlichen, geschickte Zwischenschnitte von Fabers Blick durch das Guckloch, mit Stöhnen unterlegt, genügen.

Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr verbündet sich Nadine, die frustrierte Reichentochter, mit Sigi, dem armen Loser. Einmal küsst sie ihn gar unvermittelt. Sigis Frau (Despina Pajanou, ab 1994 in „Doppelter Einsatz“ zum RTL-Serienstar geworden) ist von der Situation überfordert, flüchtet in Tränen vom Tatort und wird dabei von einem Auto überfahren. Eine neue Herausforderung für die Polizisten, darf Sigi doch nichts davon erfahren. Guten hat nur ein Ziel: die Geiselnahme vor Ort zu beenden, mit einem gezielten Schuss. Faber will hingegen,
dass alle überleben, auch der fehlgeleitete Sigi.

Mit der jungen Meret Becker, nicht nur einer der attraktivsten, sondern auch einer der besten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation, und Heinz Hoenig hat der Film gleich zwei hervorragende Episoden-Hauptdarsteller. Becker wirkt gleichermaßen verletzlich wie hemmungslos, aber nie als typisches Opfer. Hoenig spielt seinen Geiselnehmer aus Verzweiflung wie ein deutscher Robert De Niro: mal ängstlich fordernd, mal mit irrem Blick, dann wieder ganz menschlich und mitleiderregend. Beide Schauspieler waren wenig später auch in Grafs „Die  Sieger“ zu sehen,  Hoenig spielte bereits 1987 einen Geiselnehmer in „Die  Katze“.  Bei Graf durfte Hoenig aufblühen, wie so viele deutsche TV-Darsteller, zu denen anderen Regisseuren meist nichts einfällt. Ebenso Klaus Wennemann, der dritte große Hauptdarsteller der Folge, der den Faber hier ganz unterspielt gibt, ohne große Gesten, aber zutiefst menschlich. Kein abgestumpfter Beamter, sondern ein einfacher Mann mit einem Sinn für Gerechtigkeit, der Machtspiele zutiefst verabscheut.

Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Polizei und Gangster

Basedow erzählt seine Geschichte hoch verdichtet, fast in Echtzeit und über eine weite Strecke auch in Einheit aus Zeit und Raum. Von den Plänen der Einsatzleitung erfahren wir fast ausschließlich über den Funkverkehr der Polizei, eines von Grafs Lieblingsstilmitteln, das er in den meisten seiner Polizeifilme einsetzt. Da überrascht es dann nicht mehr, dass Graf selbst dem Einsatzleiter seine Stimme leiht.  Auch an der  Filmmusik hat er mitgeschrieben (zusammen mit Helmut Spanner),  wie bei vielen seiner Werke. Basedow, der vorher als Cutter gearbeitet  hatte (auch schon an Graf-Filmen), übernahm noch einmal den Schnitt, Regieassistenz hatte mit Caroline Link immerhin eine spätere Oscar-Preisträgerin.

Wie in jedem guten Krimidrama verlaufen die Grenzen zwischen Gut und Böse hier nicht zwischen der Polizei und dem Gangster. Die Sympathie des Zuschauers dürfte schon bald ähnlich verteilt sein wie die von Faber. Der Film endet mit einem beeindruckenden Bild, einem Koffer voll  brennendem Geld, und einem noch beeindruckenderen Satz von Faber über Guten, den Ministerialbeamten mit den zwei Gesichtern:  „Wie ich ihn da draußen gesehen habe und wusste, dass er der Mann ist, der den Befehl zum Schießen gibt, da war er auf einmal auch mein Feind.“  Solche Sätze sagen Polizisten sonst nicht in deutschen TV-Krimis, aber in Fernsehfilmen von Graf und Basedow hört man solche ungewöhnlichen Dialoge immer wieder. Am Ende mag der hohe Beamte den kleinen Faber zurechtweisen, aber es ist trotzdem klar, wer als Sieger aus ihrem Duell hervorgegangen ist.

Die Folge ist auf der vierten Staffelbox von „Der Fahnder“ bei Universal erschienen.

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