Die letzte Runde: Ein „Der Alte“-Fall von Zbynek Brynych

Abb.: ZDF

Samir Kandil über Zbynek Brynychs Film „Sportpalastwalzer“ (1980), der die 42. Episode der ZDF-Krimireihe „Der Alte“ und ganz nebenbei eine Sternstunde des Deutschen Films ist

Die Geschichte könnte so einfach sein: Der Kneipier und Ex-Radleistungssportler Erich Neubauer (Klaus Löwitsch) und seine Frau Liesel (Elisabeth Wiedemann) machen sich das Leben zur Hölle. Liesel erinnert ihren Mann praktisch zu jedem Zeitpunkt daran, dass er sie ein paar Jahre zuvor unter Alkoholeinfluss zur Invalidin gefahren hat, Erich betrinkt sich täglich und hat vor den Augen seiner Frau und aller Gäste eine Affäre mit der jungen Serviererin Petra (Susanne Beck). Als eines Nachts ein Streit eskaliert und in Gewalt umschlägt, tötet Erich seine Frau und lässt ihre Leiche verschwinden.

Aber so einfach erzählen Autor Detlef Müller und Regisseur Zbynek Brynych die Geschichte nicht, und vielleicht hat sie sich auch gar nicht so zugetragen. Wir sehen alles – bis auf den vermeintlichen Mord. Wir hören, wie der Streit eskaliert, wir hören Liesel schreien, wir hören, wie ein Auto wegfährt. Aber da sind wir schon in der benachbarten Wohnung von Serviererin Petra, die sich schlafen legt und keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit ihrem Mann Manfred (Holger Petzold) hat.

Am Morgen findet die Polizei den noch immer betrunkenen Neubauer, Kilometer von seiner Kneipe entfernt, schlafend in seinem Wagen. Er kann sich an die vorangegangene Nacht nicht erinnern. Liesel bleibt verschwunden. Aber es würde vielleicht gar kein Kriminalfall daraus, wenn der Ehemann von Neubauers Serviererin ihn nicht wegen Mordverdachts bei der Polizei anzeigen würde.

Kriminalhauptkommissar Köster (Siegfried Lowitz) ist nicht gerade beeindruckt von der vermeintlichen Faktenlage. Erst als sein Assistent Heymann (Michael Ande) ihm von Blutspuren in Neubauers Kneipe erzählt, entschließt er sich dazu, der Sache persönlich nachzugehen.

Regisseur Zbynek Brynych inszeniert Siegfried Lowitz als Köster in dieser ersten Büroszene zunächst als skeptischen, widerwilligen Zuhörer. Es ist Montagvormittag und Köster trägt eine Brille mit getönten Gläsern. Als er von Blutspuren hört, setzt er die Brille ab, um sie in der verbleibenden Dreiviertelstunde des Films nicht wieder aufzusetzen.

Köster besucht die Kneipe und gewinnt mit ruhigem Einfühlungsvermögen sogar das Vertrauen des Kneipiers, der selbst gern wüsste, was in der Nacht, in der seine Frau verschwand, wirklich passiert ist. Im Grunde wird Köster sogar zur einzigen Figur, der Neubauer sich noch anvertraut.

Neubauer will sich erinnern, er will seine Frau zurück, er bereut, er wird sich seiner Schuld der letzten Jahre bewusst, er beendet sogar seine Affäre mit der Serviererin Petra – und er hört sich im Gegenzug zu Kösters geduldiger Beichtabnahme dessen Theorie darüber an, wie er seine Frau Liesel umgebracht haben könnte. Schließlich ist er selbst davon überzeugt, den Mord begangen zu haben.

Regisseur Brynych zeigt uns Köster, wie er ein Verbrechen zu rekonstruieren versucht, das möglicherweise niemals stattgefunden hat. Der Versuch der Rekonstruktion wird dabei immer mehr zur Konstruktion (und Suggestion) einer handfesten Spekulation. Erst als Köster Neubauer soweit gebracht hat, dass dieser selbst glaubt, er hätte seine Frau ermordet, nimmt Köster zum ersten Mal wieder sichtbar Abstand von seiner eigenen Theorie.

Detlef Müller ist es mit seinem Drehbuch gelungen, eine große westdeutsche Tragödie der 1980er Jahre zu schreiben, sein Regisseur Zbynek Brynych[1] hat sie mit Hilfe des Stabs und eines Ensembles versierter Schauspieler (überragend: Klaus Löwitsch, Siegfried Lowitz) kongenial verfilmt.

Das unheimlich schillernde Leitmotiv dieses Films ist der Titel gebende „Sportpalastwalzer“, die Velodrom-Version von Siegfried Translateurs Walzer „Wiener Praterleben“, das in ständiger Wiederholung aus der Musikbox der Radsportkneipe erklingt und manchmal in einer zehnschlägigen Klavierversion aus dem Off widerhallt. Das Lied hält den Film zusammen und lässt den Glanz einer Welt anklingen, die ansonsten für die Protagonisten unwiederbringlich verloren ist.

Brynych beginnt seinen Film mit einem Blick auf das einstige Rennrad des Gastwirts, das jetzt als Dekoration in seiner Kneipe hängt. Dann stellt er uns in schneller Folge und fast beiläufig die Wirtin, den Wirt und seine Affäre vor. Jede Einstellung ist genau durchdacht, jede Einstellungsgröße mit Bedacht gewählt. Die Kamerafahrten sind viel zahlreicher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ein frühes Beispiel: Serviererin Petra tanzt mit Wirt Neubauer in einer Großaufnahme. Schnitt auf die Wirtin Liesel, die den Stecker der Musikbox zieht. Wir sehen Liesel Neubauer in einer Halbnahaufnahme, bis sie den Stecker zieht, dann wird die Einstellung durch eine Rückwärtsfahrt der Kamera in eine Totale aufgezogen, die mit ihr auch alle anderen Gäste zeigt, die nun im Tanzen innehalten. Die Intimität und die Atmosphäre des Augenblicks ist – in zwei Einstellungen und durch den Wegfall der Musik – zerstört.

Überhaupt unterwirft Brynych seine Darsteller ausgeklügelten Choreographien, lässt sie ins Bild treten und durch eine Geste oder einen Blick die Illusion der Räume etablieren. All das kann man als handwerkliche Grundvoraussetzungen und Trivialitäten sehen. Aber wenn sie so präzise, inhaltlich motiviert und unterspielt dargeboten werden wie hier, würde ich gern mehr handwerkliche Grundvoraussetzungen und Trivialitäten sehen.

Es sagt in den zahlreichen Zweier-Konfrontationsszenen im „Sportpalastwalzer“ immer etwas aus, wer mit wem oder wer allein im Bild ist. Als Serviererin Petra eines Abends nach Hause kommt, hat ihr Mann schon auf sie gewartet. In einer einzigen, einminütigen Einstellung, die von beiden in der Halbtotalen bis zu Petras Gesicht in Großaufnahme alle Einstellungsgrößen durchläuft, wird die Geschichte einer Ehe in der Krise erzählt. Geschnitten wird erst, als Petra ihrem Mann vehement eröffnet, dass sie nach ihrem Chef „verrückt“ sei. Dann kommt der Schnitt. Wir sehen ihren Mann allein in der nächsten Einstellung. Am Schluss der Szene packt er sie am Hals und zieht sie zu sich, aber die Kamera fährt nah an ihn heran und zeigt nur ihn. Er bleibt allein. Eine Gemeinschaft mit seiner Frau lässt sich nicht erzwingen, und Brynych gesteht sie ihm hier auch nicht im Bild zu.

Was „Sportpalastwalzer“ zu einem Kabinettstück filmischer Erzählkunst macht, ist die Tatsache, dass der Film eigentlich formell betrachtet nichts weiter als ein leicht „gelüftetes“ (d.h. um einige Außenszenen bereichertes) Kammerspiel ist, aber nie nach abgefilmtem Theater aussieht. Zu virtuos setzt Regisseur Brynych die Möglichkeiten des Sets (Szenenbild: Wolf Englert, Walter Gröbing), der Kamerabewegung (Rolf Kästel, Michael Georg) und des Tons (Ludwig Langecker, Mischung: Willi Schwadorf) ein. Aber dadurch, dass Brynych darauf verzichtet, auf seine eigene Meisterschaft hinzuweisen und die Effekte als solche zu präsentieren, bleibt der Zuschauer in der Erzählung und wird in ihren emotionalen Sog hineingezogen (Schnitt: Werner Preuss). Die letzte Sequenz in der Gastwirtschaft ist Einfachheit und Timing betreffend nachgerade genial: Während die Titel schon eingeblendet werden, läuft das Bild noch weiter, die Geschichte bleibt unvollendet, sie geht im Kopf des Zuschauers zu Ende. Als das Bild schließlich auf Kösters Gesicht einfriert und die Titel weiterlaufen, sehen wir einen Kommissar, der nach eigener Aussage einen „schweren Fehler“ gemacht hat und sich selbst sicher nicht von Mitverantwortung dafür freispricht, dass zuletzt aus dem hypothetischen Fall doch noch ein tatsächlicher Mordfall geworden ist.

Ebenso wie Brynych seine eigene technische Raffinesse unter- und die clevere Konstruktion des Drehbuchs überspielt, zitieren er und sein Autor Detlef Müller – allerdings nie ungebrochen und so leise, dass man es leicht überhören kann – einige Klassiker der Filmgeschichte wie Otto Premingers „Laura“ (1944), Hitchcocks „Vertigo“ (1958) oder „Ladykillers“ (1955) von Alexander Mackendrick. Im letztgenannten Fall gelingt sogar eine interessante Verknüpfung von Erzählung und Realität, da man nicht weiß, ob der Autor und sein Regisseur oder sogar eine der Filmfiguren selbst in ihren Erwägungen das Zitat hervorbringt.

Köster steht mit seinem Assistenten Heymann auf einer Eisenbahnbrücke und überlegt, wie Neubauer im Vollrausch den perfekten Mord begangen und die Leiche seiner Frau beseitigt haben könnte. Etwas, was Köster einem gewöhnlichen, abstreitenden Täter, kaum so ohne weiteres zutrauen würde. Die passiv gefährliche Seite des Berufsrisikos ist eben auch, dass man das praxisgeschulte Denken nicht einfach abstellen kann, wenn vielleicht einmal gar nichts passiert ist und der Hauptverdächtige weniger an einer Vertuschung als vielmehr selbst an der Aufklärung des Tatbestandes interessiert ist.

Dem Zeitgeist entsprechend fand diese Sternstunde filmischer Erzählkunst und subtil ironischer Selbstreflexion am 4. Juli 1980 im Fernsehen statt.

Die Folge (Staffel 4, Episode 7) ist auf der Collector’s Box 2 von „Der Alte“ enthalten.

[1] Der Tscheche Zbynek Brynych, einer der Hoffnungsträger des kulturellen Aufbruchs des „Prager Frühlings“, verbrachte seine beiden letzten Lebensjahrzehnte zum großen Teil im Münchner Exil. Dort drehte er hauptsächlich Folgen der typischen ZDF-Freitagskrimiserien wie „Derrick“ und eben „Der Alte,“ nachdem er 1969/70 bereits einige Beiträge zum „Kommissar“ inszeniert hatte. (Anm. d. Redaktion)


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